Frau Bündchen kommt sehr regelmäßig für Tramadol in die Apotheke. Nach einer Weile werde ich misstrauisch und frage bei ihrem Arzt nach. „Aber Tramadol wird doch nicht missbraucht!“, heißt es da. Die Kundin beweist das Gegenteil.
Vor ein paar Jahren habe ich gelernt, dass auch die Krankenkassen so etwas wie Sperrlisten führen. Das heißt, sie kontrollieren die Medikamente darauf, ob die Dosierungsintervalle plausibel sind – und wenn jemand exzessiv darüber geht, vor allem bei Medikamenten mit Limitatio wie Benzodiazepinen, dann bekommt der Patient erst mal einen Brief mit einer Warnung, bevor ihm die Medikamente dann irgendwann nicht mehr bezahlt werden. Da die meist sowieso nicht so teuer sind, führt das meistens einfach dazu, dass die Patienten in der Apotheke selber zahlen. Problem gelöst – für die Kasse zumindest.
Eine Sperrliste (Namen sicher unterschiedlich) existiert intrakantonell und wird von den Gesundheitsdiensten geführt. Da landen die Personen drauf, die mehrfach Rezepte ge- oder verfälscht haben, Ärzte- und Apothekenhopping betrieben haben und trotzdem so aufgefallen sind, dass versucht wird, ihrem Missbrauch entgegenzutreten. Die werden dann für bestimmte Medikamente gesperrt, die sie dann nur noch von einem bestimmten Arzt und einer bestimmten Apotheke beziehen dürfen. Es ist nicht ganz einfach, auf der Liste zu landen. Es ist fast schwerer, da wieder runter zu kommen, obwohl ich das im letzten Jahr tatsächlich mehrmals gesehen habe. Auffallend, dass beim letzten Update drei Personen gestrichen wurden, die gestorben sind.
Auftritt Frau Bündchen: Frau Bündchen ist mittleren Alters, hat keine Familie, kümmert sich aber um die Mutter, die ebenfalls in der Nähe wohnt. Sie selber ist soweit gesund, bis auf ein Schmerzproblem, für das sie vom Arzt Tramadol retard verschrieben bekommen hat – als Dauermedikation. Die Mutter ist, für ihr Alter nicht ungewöhnlich, polymorbid und bekommt eine Vielzahl an Medikamenten. Sie hat außerdem die Hauspflege, die hauptsächlich für sie sorgt und die auch Medikamente von uns bezieht. Sowohl Frau Bündchen als auch ihre Mutter sind also bei uns Kunden – auch, wenn ich die Mutter nie gesehen habe. Die Rezepte und Bestellungen der Medikamente sprechen für sich.
Frau Bündchen ist immer sehr nett, wenn sie in der Apotheke ist – sie redet sehr viel, macht Smalltalk, wenn sie ihr Medikament oder etwas für die Mutter abholt. Sie erklärt auch sehr viel, warum sie diesmal wieder zu früh dran ist mit dem Tramadol-Tabletten-Bezug. Das häuft sich. Ferien? Wochenendausflug? Spitalaufenthalt der Mutter? Wir machen, was wir in solchen Fällen immer machen: Wir machen deutlich auf die verschriebene Dosierung aufmerksam (die hier sehr am oberen Ende des Möglichen liegt). Beim nächsten Mal machen wir darauf aufmerksam, dass es danach zu früh ist und dass das nicht sein sollte bei dem Medikament und der Dosierung. Und vom nächsten Mal an schreiben wir auf die Dosierungsetikette drauf, wie lange die Packung halten muss und ab wann der nächste Bezug möglich ist. Frau Bündchen durchgeht die Stufen recht schnell und zeigt sich auch sehr verständnisvoll, wenn auch gerne diskutierend und auf Ausnahmen bedacht.
Dennoch fällt es auf. Was auch auffällt: Ich habe ja geschrieben, dass sowohl die Hauspflege als auch sie Medikamente für ihre Mutter bei uns beziehen. Die Hauspflege bezieht alles Mögliche: Blutdruckmittel, Diuretika, Cholesterinmittel, Inkontinenzprodukte. Frau Bündchen holt dafür praktisch ausschließlich das Schmerzmittel: Tramadol-Tropfen. Zwischendurch auch mal eine Packung Tena, aber sonst immer Tramadol-Tropfen. Und auch hier: in Mengen, so dass wir auch bei denen bald anfangen müssen, die Abgabeintervalle auf die Dosierungsetikette zu schreiben. Dazu brauchte ich hier die Dosierung, die ich auf Nachfrage auch beim Arzt bekomme. Ebenfalls eher obere Grenze der Empfehlungen. Frau Bündchen steht immer rechtzeitig zum „Termin“ zum Abholen in der Apotheke.
Die misstrauischeren unter meinen Lesern denken jetzt vielleicht dasselbe wie wir nach einer Weile: Ist es wirklich die Mutter, die die Tropfen nimmt? Tramadol ist ein opioides Schmerzmittel für mittelstarke bis starke Schmerzen. Sie können abhängig machen. Die Retard-Tabletten haben eine langsame Aufnahme und längere Wirkung im Körper. Die Tropfen werden hingegen schnell aufgenommen und wirken schneller und können ein „High“ produzieren, was bei den retardierten Tabletten schwierig ist.
Unser Verdacht ist also, dass die Tochter das Medikament für sich nimmt, aber aus Gründen des Patientenschutzes ist das Nachfragen dazu etwas delikat. Die Haushilfe wurde beim Bezug der anderen Medikamente einmal gefragt, ob sie auch das Tramadol mitnehmen will? Das hat die Frau von der Haushilfe mehr als verwirrt. Laut ihr hat Frau Bündchen Senior nämlich gar keine Schmerzmittel. Jedenfalls habe sie nichts auf der Liste der Sachen, die sie ihr gebe. Etwas später kommt Frau Bündchen selber in die Apotheke: Die Haushilfe wisse nichts von dem, weil sie (die Tochter) für die Gabe der Tropfen der Mutter verantwortlich sei und das mache. Da sei alles okay. Offenbar hat die Haushilfe da nachgefragt … .
Zeit vergeht, ohne dass sich groß etwas ändert. Ein neues Rezept vom Arzt wird nötig für Frau Bündchen. Der Arzt schickt uns eines per Fax, aber es ist kein Dauerrezept. Wir machen sie bei der nächsten Abgabe darauf aufmerksam und sie verspricht dafür zu sorgen, dass ein Dauerrezept ausgestellt wird. Sie will nicht, dass wir den Arzt dafür kontaktieren. 20 Tage gehen um, kein neues Rezept erscheint, aber Frau Bündchen steht wieder hier für die nächste Packung: „Oh, ich war sicher, er hat es inzwischen geschickt. Ich frage noch einmal nach.“ Noch am selben Nachmittag steht sie mit vor ein paar Tagen neu ausgestelltem Dauerrezept wieder da.
Aber: Das Rezept ist ein (Farb-) Ausdruck. Die Unterschrift nicht original. Kein Stempel. Auf Nachfrage erklärt sie, dass der Arzt ihr das Rezept per E-Mail zugesendet habe. Damit habe ich ein Problem – ich hab hier bereits dazu berichtet. Ich will sie jetzt nicht da drauf ansetzen, das zu missbrauchen, also sage ich bei ihr nicht viel weiter, aber ich kontaktiere danach doch den Arzt, respektive die Praxis – ich muss mich ja versichern, dass das ein richtiges Rezept ist … und außerdem möchte ich ihn darauf aufmerksam machen, wie regelmäßig sie das Medikament bezieht, respektive wie häufig.
Das Telefonat war aufschlussreich, auf verschiedenen Ebenen. Zuerst einmal, dass die Praxis darin kein Problem sieht, Rezepte per E-Mail an die Patienten zu schicken. Das machen sie offenbar häufiger. Sie sind nicht die einzigen; ich glaube auch, die meisten Apotheken haben es inzwischen aufgegeben, da zu informieren, und geben die Medikamente einfach trotzdem ab – außer vielleicht, es handelt sich um etwas das missbraucht werden kann. Dazu gehört auch Tramadol.
Ich erkläre also mein Problem damit und bekomme eine Antwort, die mich tatsächlich laut am Telefon lachen lässt: „Aber Tramadol wird doch nicht missbraucht.“ Doch. Frau Bündchen, zum Beispiel, ist klar davon abhängig und holt es regelmäßig in der nach der Dosierung maximal erhältlichen Menge – also alle 20 Tage. Bei uns. Mit dem von der Praxis per E-Mail erhaltenen Dauerrezept kann sie es mehrmals ausdrucken und in mehrere Apotheken gehen. Vor allem auch, wenn die nicht so gut drauf schauen, ob das jetzt nicht etwa ein Farbausdruck ist und kein Original. Ich empfehle deshalb dringend, Rezepte nur direkt an die Apotheken zu faxen oder mailen. Die Dame am Telefon versprach mir, die Patientin zumindest darauf anzusprechen, aber das Rezept sei gültig.
Kleiner Einschnitt: Es IST ein Problem. Es gibt keine zentrale Datenbank, auf die Apotheken oder Ärzte Zugriff haben, wer für was wo ein Rezept hat. Ich kann nicht bei einer anderen Apotheke Einblick halten, ob dort schon etwas bezogen wurde. Wenn das über die Krankenkasse verrechnet wird, fällt das eventuell (!) auf – aber nicht unbedingt bei etwas, das keine hinterlegte Limitation hat, wie Tramadol. Wenn die Person bei verschiedenen Ärzten das Rezept holt und das in verschiedenen Apotheken einlöst, kann das sehr lange dauern, bis so etwas überhaupt auffällt. Und wenn es auffällt, dann liegt es am Engagement der Apotheke, ob und wie schnell etwas dagegen unternommen wird. Denn auch wenn im Gesetz steht „Missbrauch ist entgegenzutreten“ – an nicht abgegebenen Medikamenten verdienen wir auch nichts.
In der Zwischenzeit wird auch für die Mutter, Frau Bündchen Senior, ein neues Tramadol-Tropfen-Rezept nötig. Für die restliche Dauermedikation haben wir entsprechende Rezepte bekommen. Auch hier will Frau Bündchen nicht, dass wir den Arzt – einen anderen – kontaktieren: Sie mache das schon. Zur Sicherheit mache ich sie darauf aufmerksam, dass das Rezept bitte direkt zu uns gesendet wird. Tatsächlich kommt es kurz darauf zu uns – per E-Mail. Ein Dauerrezept. Aber: keine Dosierung angegeben. Und die brauche ich. Wie gesagt, die Tropfen werden genauso regelmäßig in der Maximaldosierung bezogen, wie die Tabletten. Grund bei der Praxis nachzufragen!
Auch dieses Telefonat war interessant. Die medizinische Praxisassistentin meinte nach Bedarf. Erst als ich ihr mein Problem damit erklärte und die bisher verschriebene hohe Dosierung, die regelmäßig in der Maximaldosierung bezogen wird – von wem darf ich nicht sagen und dass die Haushilfe, die sie sonst betreut, auch nicht weiß, wie viel sie nimmt, da das die Tochter unter sich hätte … erst dann verspricht sie mir, das mit dem Arzt anzuschauen und sich wieder zu melden. Die Rückmeldung ein paar Tage später bringt mir die Antwort: In der gleichen Dosierung wie bisher, sie wollten das aber mit der Patientin selber noch anschauen.
Es vergehen 2 Monate, bis sie das offenbar wirklich tun – wir erhalten nur die Meldung, dass das Dauerrezept gestoppt sei. Frau Bündchen Senior benötige keine so starken Schmerzmittel (mehr). Die Tochter wirkt einigermaßen überrascht von dem, insistiert jedoch nicht auf einer weiteren Abgabe, nachdem sie informiert wurde. Das ist einerseits erfreulich – vielleicht haben wir uns ja getäuscht – andererseits frage ich mich, ob sie da nicht noch andere Bezugsquellen hat. Seit dem „Dauerrezept-Mail an Patient“-Vorfall, scheint sie auch selber nicht mehr ganz so zeitig in der Apotheke zu stehen, um die Tabletten abzuholen.
Bildquelle: Harry Cunningham, Unsplash