Wie oft untersucht ihr Akutpatienten, weil es für die Diagnose wichtig ist? Und wie oft, weil der Patient es erwartet oder ihr euch absichern wollt? Überlegungen zum Sinn und Unsinn der körperlichen Untersuchung.
Häufig wird in der Akutmedizin ja gepredigt, jeder Patient müsse „von Locke bis Socke“ untersucht werden, um ja nichts zu übersehen. Michael Bernhard hat auf seiner großartigen Seite News-Papers dafür eine Lanze gebrochen und führt hier zwei Artikel an.
Der erste Artikel beschreibt allgemein eine Sammlung von Fällen, die über Online-Fragebögen eingegangen sind. Diese Fälle sind nicht auf die Notfallmedizin beschränkt und wurden zufällig, aber eben nicht randomisiert, ermittelt. Das Erlangen der richtigen Diagnose erfordert insbesondere in der zeitkritischen Umgebung der Notaufnahme eine hohe Kompetenz in der Differentialdiagnostik und in der zielgerichteten Diagnostik.
Der zweite Artikel ist ein Meinungsartikel, in dem der Autor – zu Recht – die basalen Kenntnisse in der körperlichen Untersuchung kritisiert und dabei besonders die kurze, schnelle körperliche Untersuchung. Einen Thoraxschmerz falsch zu diagnostizieren, weil nicht unters Hemd des Patienten geschaut wurde (und der Herpes zoster übersehen wurde), ist natürlich ein fahrlässiger Fehler.
Beide Artikel beziehen sich aber nicht auf die Notfallmedizin im Speziellen, sondern betreffen alle Fachrichtungen allgemein. Außerdem handelt es sich um eine Online-Umfrage und einen Meinungsartikel – was beides nicht als klassische Evidenz anzusehen ist.
Meine ganz persönliche Erfahrung in diesem Bereich: Wenn irgendwer eine ausführliche Untersuchung will, dann waren das bei mir meist die Chefs. Es gibt Untersuchungen, dass die Anzahl von angeforderten Laborwerten dann signifikant sinkt, wenn ich sie selbst machen muss (und es nicht die nette Schwester für mich erledigt). Oder anders rum: Je weiter weg ich vom Patienten bin, desto mehr lege ich darauf Wert.
Aber wie sieht es denn mit der wissenschaftlichen Grundlage aus? Und was wollen wir eigentlich in der Notfallmedizin mit der körperlichen Untersuchung erreichen?
Fragen über Fragen, fangen wir mal vorne an: Wie sieht es denn mit der Evidenz aus?
Wie bei so vielen Dingen in unserem Alltag ist die Datenlage mehr als undurchsichtig. Es gibt einige Studien, die allerdings schon weit über 30 Jahre alt sind, also aus einer Zeit vor Point-of-Care-Ultraschall und BGA kommen. Aktuelle Studien gibt es zumindest für die Notfallmedizin wenige.
Relativ aktuell, nämlich 2007, betrachteten Kollegen aus San Francisco Patienten, die ohne Rettungsdienst und mit eher unspezifischen Beschwerden kamen. Die Beschwerden wurden als „minor peripheral chief complaints“ bezeichnet, bei uns am ehesten mit einem ambulanten Bagatelle-Fall gleichzusetzen (ohne Bagatelle negativ besetzen zu wollen). Zum einen wurde untersucht, ob eine standardisierte körperliche Untersuchung einen sinnvollen Effekt brachte, zum anderen, warum die Kollegen diese überhaupt durchführten. Und ihr ahnt bestimmt das Ergebnis: Patienten, die mit fokalen und limitierten Beschwerden wie stumpfer Extremitätenverletzung, unklarer Hautrötung, Augenrötung oder vergleichbarer Symptomatik kamen, hatten keinen Nutzen von einer weitergehenden Untersuchung. Es gab ein paar wenige Zufallsbefunde, aber nicht ein Befund veränderte die Dauer oder Art der Behandlung.
Interessant wird es, wenn man sich die intrinsische Motivation für die körperliche Untersuchung durch die Kollegen betrachtet:
Aber erhöht eine körperliche Untersuchung denn überhaupt die Sicherheit einer Diagnosestellung? Schon in den 70ern wurde postuliert, dass man mit einer guten Anamnese bereits eine erhebliche Sicherheit in der Diagnosestellung erreichen kann und eine körperliche Untersuchung nur in wenigen Fällen zielführend ist. Auch heute noch zeigt eine fokussierte Untersuchung mit guter Anamnese wohl in 60 % der Fälle bereits eine korrekte Diagnose bei Notfallpatienten, dies kann mit weiteren Basisuntersuchungen (Röntgen-Thorax, Labor, EKG) auf 75 % erhöht werden. Aber Obacht: Dabei handelt es sich um auf eine internistische Station aufgenommene Akutpatienten.
Interessanterweise gehen die Kollegen hier nicht auf die Art der Untersuchung ein, sondern bleiben dabei sehr vage – zumal die Untersuchungen dieser Studie bereits nach Aufnahme auf Station erfolgt sind. Offenlassen müssen sie dann eben auch die große Anzahl an ambulant geführten Patienten.
Jetzt sieht es schon mal sehr stark danach aus, dass die Untersuchung nach Schema F uns ebenso wenig weiter bringt wie die körperliche Untersuchung jedes Patienten.
Ein interessantes Statement kommt in diesem Zusammenhang von ACEPnow, der offiziellen Publikation des American College of Emergency Physicians. Die haben nicht nur die aktuelle Studienlage zusammengefasst, sondern geben schon fast schockierende Empfehlungen. Sie gehen sogar so weit, zu sagen, dass die klassische „Socke bis Locke“-Untersuchung in der Notfallmedizin bald aussterben wird. Wobei hier zwischen einer fokussierten Untersuchung (die sich mit einem Leitsymptom befasst) und einer unspezifischen Standarduntersuchung unterschieden wird (definiert von den Abrechnungsvorgaben der Versicherungen).
Diese Allgemeinuntersuchung bringt nämlich keine Verbesserung bezüglich des Überlebens oder Krankheitsschwere. Auch das Risiko für eines der größeren Risikoereignisse wie Schlaganfall oder Herzinfarkt konnte darunter bzw. dadurch nicht gesenkt werden. Und mal objektiv betrachtet: Die Brustschmerz-Scores wie HEART-Score oder Grace-Score kommen komplett ohne eine einzige Variable aus der körperlichen Untersuchung aus.
Erfahrene Notfallmediziner erkennen richtig kranke Patienten, wenn sie in die Notaufnahme reinkommen und werden mit der Zeit sehr gut darin, diese zügig klinisch einzuschätzen – ohne lang untersuchen zu müssen.
Und jetzt kommt der angekündigte Schockmoment: Die Kollegen empfehlen trotzdem einen einfachen, aber raschen körperlichen Untersuchungsgang. Haben die nicht gerade noch gesagt, das bringt alles nichts? Richtig, aber darum geht es ihnen auch nicht. Patienten haben häufig eine bestimmte Erwartung an ihre behandelnden Ärzte und dazu gehört auch die eher therapeutische Berührung bei der Untersuchung. Ein generell häufiger Beschwerdepunkt von Patienten ist – ob gerechtfertigt oder nicht, sei dahingestellt – dass man kaum untersucht wurde. Dem kann man mit einer einfachen Abfolge von simplen Manövern entsprechen:
Das muss man erst mal sacken lassen. Zumindest ging es mir so. Aber ganz ehrlich, wenn ich wirklich offen zu mir bin, ist das genau der Eindruck, den ich in den letzten Jahren gewonnen habe: Ich muss mich in der Notfallmedizin und der Differentialdiagnostik sehr gut auskennen, um hier die richtige Untersuchung beim richtigen Patienten durchzuführen. Und nur um es gemacht zu haben, oder um einem gewissen Schema zu genügen, ist es verschwendete Zeit, die uns bei anderen Patienten fehlt.
Und hier schließt sich der Kreis zu Michaels leidenschaftlichem Plädoyer für eine gute körperliche Untersuchung: Beim richtigen Patienten mit der richtigen Zielsetzung muss eine eventuell auch komplexe aber zielgerichtete, fokussierte körperliche Untersuchung dazu gehören. Dies erfordert Übung, Erfahrung und notfallmedizinisches Wissen, aber dann spart man sich in Zukunft vielleicht beim Patienten mit der Retrobulbärneuritis den Bodycheck oder bei der jungen Patientin mit der OSG-Distorsion die Auskultation.
Das Credo „Jeder. Immer. Alles.“ kann bei der Untersuchung des Notfallpatienten nicht zutreffen. Nur muss unterschieden werden zwischen Patienten mit akuten, klar formulierbaren und abgrenzbaren Beschwerden und zwischen unspezifischer Zustandsverschlechterung, Unwohlsein, „Befindlichkeitsstörungen“.
Jedem dürfte einleuchten, dass eine Untersuchung des Sprunggelenks mit angrenzenden Gelenken bei der reinen Distorsion ausreicht; allerdings ist bei unklarem Fieber eine zwar fokussierte, aber eben auch ausführlichere Untersuchung des Patienten notwendig. Genau wie bei diesen Patienten ein zielgerichteter und symptomorientierter Standard in der bildgebenden und laborchemischen Diagnostik sinnvoll ist, muss die körperliche Untersuchung bezüglich Fokussuche ausgerichtet sein. Dafür ist es unabdingbar, die notwendige Differentialdiagnose im Kopf zu haben, um nach entsprechenden Zeichen zu suchen. Dies geht sicherlich nicht ohne die notwendige Erfahrung.
Dementsprechend wird der erfahrene Kliniker kürzer und fokussierter untersuchen können, um seine gedanklichen Haken an fragliche Differentialdiagnosen machen zu können und ggf. weitere Untersuchungen in die Wege zu leiten als der Berufsanfänger. Dieser wiederum kann das Fokussieren nur lernen, wenn er die Ausführlichkeit kennt. Kurz und knapp lässt sich wahrscheinlich sagen: Die körperliche Untersuchung ist, richtig eingesetzt, ein wichtiges Instrument – nicht jeder, immer, alles, aber je unspezifischer die Beschwerden, je mehr Differentialdiagnosen und Red Flags, je komplexer der Patient, desto ausführlicher die körperliche Untersuchung.
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Bildquelle: Ana Municio, unsplash