Ein junger Mann entwickelt mehrere juckende, weiße Beulen, die sich zu geschwürartigen Läsionen bilden. Alles deutet auf eine sexuell übertragbare Erkrankung hin – doch das ist nicht ganz richtig.
Ein 31-jähriger Mann wird mit perianalen und penilen Geschwüren, rektalen Schmerzen und vesikulopustulösem Ausschlag ins Massachusetts General Hospital, USA, geliefert. Neun Tage zuvor bemerkte der Patient mehrere juckende, weiße „Beulen“ um seinen Anus herum, die sich später zu ulzerativen Läsionen entwickelten. Daraufhin suchte er eine Primärversorgungsklinik auf, in der er auf verschiedene Geschlechtskrankheiten getestet wurde: HIV, Syphilis, Gonorrhö und Chlamydien. Anschließend wurde eine Benzathin-Benzylpenicillin-Injektion verabreicht und eine Behandlung mit Valaciclovir begonnen.
Da die Geschwüre auch in den nächsten 5 Tagen nicht abließen, beendete der Patient die Einnahme des Virostatikums. Danach entwickelte sich eine schmerzhafte Proktitis mit rektalen Blutungen und übelriechendem, schleimig-eitrigem Ausfluss – zusammen mit Fieber, Schüttelfrost, Schweißausbrüchen und neuer Schwellung in der Leistengegend. Drei Tage vor der letztendlichen Krankenhausaufnahme trat am Penis ein neues, schmerzloses Geschwür auf, das im Aussehen den perianalen Geschwüren ähnelte. Am nächsten Tag folgten weitere verstreute, vesikuläre Läsionen an Armen und Beinen.
Bereits vor vierzehn Jahre hatte der Mann Halsschmerzen und Oberkörperausschlag entwickelt: Eine sekundäre Syphilis, die mit Benzathin-Benzylpenicillin erfolgreich behandelt wurde. Außerdem hatte er eine Vorgeschichte von rezidivierenden Infektionen mit dem oralen Herpes-simplex-Virus (HSV), weshalb er mehrmals pro Jahr Valaciclovir oral einnahm. Zur HIV-PrEP nahm er täglich Emtricitabin und Tenofovir oral ein.
Der Patient lebte mit zwei Mitbewohnern und einer Katze in einem Vorort von Massachusetts. Zwei Wochen vor dieser Untersuchung war er in ein Stadtgebiet im Südosten Kanadas gereist. Während dieser Reise hatte er ungeschützten Sex mit männlichen Partnern. Es gab keine andere Reise in letzter Zeit. Der Patient rauchte keine Zigaretten, nahm keine illegalen Drogen und trank selten Alkohol. „Sein Status als Mann, der Sex mit Männern hat (MSM) und seine Vorgeschichte mit Syphilis setzten ihn einem erhöhten Risiko für sexuell übertragbare Infektionen (STIs) sowie andere Infektionen aus, die durch engen Kontakt übertragen werden“, erklärt Dr. Nesli Basgoz, behandelnde Ärztin.
Bei der Untersuchung im Krankenhaus betrug die Temperatur des 31-Jährigen 36,5 °C, der Blutdruck 139/86 mm Hg, der Puls lag bei 75 Schlägen pro Minute und die Sauerstoffsättigung bei 98 % bei eingeatmeter Umgebungsluft. Sein BMI lag bei 23,9. Er hatte sechs perinanale Geschwüre sowie ein Geschwür auf dem Rücken des Penisschafts mit hervorgehobenen, festen Rändern (Abbildung 1).
Abbildung 1: Fotos von Perianal- und Penisgeschwüren; 2 Tage vor Klinikaufnahme. Bild A zeigt ein perianales Geschwür mit einem Durchmesser von weniger als 1 cm und hervorgehobenen, festen Rändern. Bild B zeigt ein Geschwür auf dem Rücken des Penisschafts mit einem Durchmesser von 7 mm, das in seinem Aussehen dem Perianalgeschwür ähnelt. Bild C zeigt, dass das Geschwür gehäufte Ränder um eine zentrale trockene Basis hat. Credit: Basgoz et al. (2022)Außerdem bestand eine schmerzhafte bilaterale, inguinale Lymphadenopathie. Zudem nässte die Perianalhaut und der Patient litt an einer Proktitis. Darüber hinaus gab es etwa 12 papulovesikuläre Läsionen, die über Brust, Rücken, Arme und Beine verstreut waren. Diese Läsionen waren mit klarem Fluid gefüllt und wiesen ein umgebendes Erythem auf (Abbildung 2 A und B).
Abbildung 2: Ausschlag. Bild A und B zeigen verstreute papulovesikuläre Läsionen auf der Brust, die 2 Tage vor der Klinikaufnahme vorhanden waren. Die Läsionen haben einen Durchmesser von 2 mm, sind mit klarer Flüssigkeit gefüllt und haben ein umgebendes Erythem. Bild zeigt eine Läsion auf der rechten Handfläche, die bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme vorhanden war. Bild D zeigt eine papulovesikuläre Läsion am linken Zeigefinger, die sich als eine der letzten Hautläsionen entwickelte – etwa 2 Wochen nach Beginn der Symptome. Credit: Basgoz et al. (2022)
In den nächsten 2 Tagen ließen die Geschwüre nicht nach und die rektalen Schmerzen verschlimmerten sich so sehr, dass dem Patienten Sitzen, Schlafen und auch der Stuhlgang nicht länger möglich waren. Zudem traten weitere Hautläsionen auf. Daher kehrte der Patient zur Untersuchung in die Klinik zurück: Die Anoskopie zeigte eine intensive rektale und anale Entzündung mit flachen Ulzerationen und eitrigem Exsudat (Abbildung 3).
Abbildung 3: Foto von der Anoskopie bei Klinikaufnahme. Eine intensive rektale und anale Entzündung mit flachen Ulzerationen und eitrigen Exsudat, Befund im Einklang mit einer Prokitis. Credit: Basgoz et al. (2022)
Außerdem hatte der Patient pustelartige Hautläsionen mit erythematöser Basis über Kopfhaut, Brust, Rücken und Extremitäten verstreut – einschließlich einer Handfläche (Abbildung 2 C).
Auch seine inguinalen Lymphknoten waren vergrößert und schmerzten. Die perianalen und penilen Geschwüre waren empfindlich und hatten gehäufte Ränder um eine zentrale trockene Basis. Blutbild und Differenzialbild der weißen Blutkörperchen des Patienten waren allerdings normal.
Die behandelnden Ärzte begannen die Therapie mit intravenösem Aciclovir und Doxycyclin. Zudem verabreichten sie Stuhlweichmacher und Hydromorphon.
Eine kurze Zwischenzusammenfassung
Während der zwei ambulanten Besuche des Patienten im Krankenhaus wurde eine breite Differentialdiagnose in Betracht gezogen und umfangreiche Tests durchgeführt. Anfängliche Behandlungen umfassten Benzathin-Benzylpenicillin, Ceftriaxon und orales Valaciclovir und Doxycyclin. Als sich seine Symptome trotz dieser Behandlungen weiter verschlimmerten, wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Labortestergebnisse waren normal.
Auch die differenzierte Diagnostik wies auf keine der in Frage kommenden STIs hin: Virale Infektionen mit HSV, Varizella-Zoster-Virus, HIV, Molluscum Contagiosum oder auch bakterielle mit Gonorrhö, Syphilis, Lymphogranuloma Venereum und Ulcus molle konnten ausgeschlossen werden.
„Es schien immer klarer, dass es eine mögliche alternative Diagnose für eine Infektionskrankheit geben muss“, bemerkte Basgoz. Der Patient teilte ebenfalls mit, dass beide Personen aus Kanada, mit denen er in sexuellen Kontakt gekommen war, ähnliche Symptome aufwiesen. Sie standen vor einem vergleichbaren Problem: Die Krankheit wich von der anfänglichen Diagnose ab und konnte durch Behandlung nicht behoben werden.
„Eines sehr frühen Morgens wachte ich auf und dachte an die Möglichkeit eines Pockenvirus“, erklärt die Medizinerin. Eine allgemeine Pubmed- und Internetsuche, die die Begriffe „Pockenvirus“, „Ausbruch“ und sexuell übertragbare Infektion“ enthielt, ergab einen Bericht, der am selben Tag von den Gesundheitsbehörden in Großbritannien veröffentlicht worden war. Darin wurden vier ähnliche Fälle beschreiben, bei denen die Diagnose Affenpocken bestätigt worden war. „Zu diesem Zeitpunkt kontaktierte ich die Abteilung für Infektionskontrolle in unserem Krankenhaus, um meine Bedenken darüber zu äußern, dass der Patient Affenpocken haben könnte.“ Für die Labordiagnostik wurden dann Abstrichproben aus Hautläsionen und dem Rachen für eine RT-PCR entnommen. Die letztendliche Diagnose: Infektion mit dem westafrikanischen Affenpockenvirus.
Auf Empfehlung der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC wurde der Patient in einen Isolationsraum für durch Luft übertragene Infektionen verlegt. Bei weiteren Befragungen des Patienten stellte sich auch heraus, dass er weder in ein Land gereist ist, in dem das Virus endemisch ist, noch Kontakte mit einer solchen Reisegeschichte hatte – ähnlich wie bei den Fällen aus Großbritannien. Als die bestätigten Laborbefunde vorlagen, wurde eine intensive Nachverfolgung der Kontakte durchgeführt – mehr als 200 mögliche Personen aus dem persönlichen Umfeld und dem Gesundheitswesen.
Etwa zwei Wochen nach dem Einsetzen der Symptome bei dem jungen Patienten stellten die behandelnden Ärzte weitere Läsionen fest: kleine Wunden in den linken Nasenlöchern, unter einem Zeh und am linken zweiten Finger (Abbildung 2D). „Wir schätzten, dass er im Laufe seiner Krankheit ungefähr 25 Hautläsionen in verschiedenen Entwicklungsstadien hatte“, erklärt Dr. Sascha N. Murillo, behandelnde Internistin. Zwar litt der 31-Jährige während des Krankenhausaufenthalts an Unwohlsein und Müdigkeit, doch hatte er kein Fieber. Die inguinale Lymphadenopathie ließ auch nach. Am neunten Krankenhaustag waren alle Läsionen verkrustet und abgefallen – mit adäquater Neubildung des Epithels. Da der Patient nicht mehr als infektiös galt, wurde er nach Hause entlassen.
Zum 24. Juni 2022 wurdem dem RKI bereits 676 Fälle von Affenpocken in 14 Bundesländern gemeldet. Bei steigenden Fällen von Affenpocken in nicht endemischen Gebieten (wir berichteten) sollten solche Bilder auch häufiger in der alltäglichen Praxis wiederzufinden sein (wir berichteten). Seid ihr dem Fall schnell auf die Schliche gekommen? Oder hattet ihr ähnliche Erfahrungen? Schreibt es gerne in die Kommentare!
Die Originalpublikation findet ihr hier.
Bildquelle: Devin Kaselnak, Unsplash