Die Krankenkassen schlagen Alarm: Wenn Lauterbach nicht sofort handelt, ist die Verschuldung des deutschen Gesundheitssystems bis 2027 dramatisch. Es gibt viel zu tun – und die Zeit drängt.
Bleibt Lauterbach einmal fern, eine Videoschalte ausgenommen, scheinen die Akteure nur mehr in Detailfragen auseinanderzuliegen. Auch Gallionsfiguren wie Prof. Lothar Wieler (Robert-Koch-Institut), Prof. Jürgen Wasem (Universität Duisburg-Essen) oder Prof. Josef Hecken (Gemeinsamer Bundesausschuss) trafen mit ihren Ausführungen weniger in offene Wunden, denn offene Ohren. Und dennoch fehlte es nicht an Vehemenz mit der „alte“ Probleme angesprochen wurden und der nötigen Kreativität und neuen Lösungsansätzen, mit denen diese behoben werden sollen.
Das Paradebeispiel für diese Konstellation bot die Auftaktveranstaltungen beim Hauptstadtkongress 2022 zum Thema „Der Koalitionsvertrag im Stresstest“ mit Vertretern aus Ärzteschaft, Krankenkassen und Politik. Unerwartete Einigkeit herrschte dort in den Fragen nach Investitionen, Einsparpotenzialen sowie mit Blick auf die Planungen zur Schließung von Kliniken in Deutschland.
Wasems Urteil, wonach das Gesundheitssystem sehenden Auges in ein finanzpolitisches Desaster läuft – sprich: die zunehmende primäre Unterdeckung in diesem Jahr die magische 50 Milliarden Euro-Grenze überschreitet – fällt drastisch, aber mit allgemeiner Zustimmung aus. Denn die Verantwortung, so sind sich die Diskutanten einig, liegt in den Versäumnissen sowie der expansiven Ausgabenpolitik der Großen Koalition.
„Unabhängig von den neuen Strukturen müssen die GKVen nun auf stabiles finanzielles Fundament gestellt werden“, sagt der Statistiker und appelliert an die Politik, dass es „verlässlicher Planungen bedarf und man nicht jährlich schaut, wie man im aktuellen finanziert.“ In beiden Aspekten kam die Unterstützung von Seiten der Kassen. Kai Senf, Geschäftsführer Politik des AOK-Bundesverbandes, mahnte nicht zuletzt an, dass es zu bedenken gelte, „dass man jetzt finanzieren und in den Umbau des Systems investieren müsse, wenn es darum geht, die gewünschten Punkte im Koalitionsvertrag umzusetzen“. Gleichzeitig passiert aber das Gegenteil und die Politik biete keine Lösungen dafür, dass auch die Pflegeversicherungen zunehmend rote Zahlen schreiben.
Wasems fatales Fazit: Sollten wir kein Modell finden, das die Finanzierungsfrage grundlegend löst, wird sich der jährliche Sonder-Bundeszuschuss von aktuell 14 Milliarden Euro auf 36,6 Milliarden im Jahr 2027 erhöhen.
Ein ähnliches Bild der Einigkeit schloss sich im Themenfeld Public Health an. So konstatierte allen voran Deutschlands Chef-Epidemiologe Wieler, dass wir auf Corona-Subtypen und andere Infektionskrankheiten „sicher besser vorbereitet sind als vor drei Jahren. Wie lange das aber noch so bleibt, weiß ich nicht. Das ist ein politischer Wille, dass es so bleibt. Es [unser aktuell hoher Standard] kann durchaus auch wieder zurückgehen.“
Um diesen Stand zu halten, bedarf es aber der Investition – einerseits. Andererseits müssen sich auch globale Strukturen etablieren und mit politischer Konsequenz betrieben werden, um die nötigen „Werkzeuge der Früherkennung“ parat zu haben, wenn sie benötigt werden. Strukturen bedeute zudem in Wielers Augen, dass personelle Ressourcen dauerhaft bereitgestellt sind, es bestenfalls „in jedem Land eine Public Health Force gebe“, aus dem man eine „weltweite Community, einen Klub der Intelligenz macht, der sich untereinander austauscht, mit Daten versorgt und stark vernetzt. Die nötige Technologie käme dann nur noch oben drauf.“
Der G7 Pact for Pandemic Readiness, der WHO Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence sowie die Anhebung der Pflichtbeiträge für die WHO-Mitglieder von aktuell 16 auf 50 % im Jahr 2030 sind dabei gute Zeichen, die die Diskutanten ebenso hervorhoben wie den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Konkret wurden mit dem 2020 verabschiedeten Papier, das mit 4 Milliarden Euro Subventionen untermauert wurde, 1.600 Stellen an örtlichen Gesundheitsämtern geschaffen – on top zu den ärztlichen Stellen sowie Maßnahmen der Digitalisierung.
Und doch bleiben Wünsche für die Zukunft offen: „Wir müssen weltweit in Sachen Health Equity besser werden. Es müssen überall Public Health Systeme geschaffen werden“, so Wieler. Was es außer den Systemen als Grundlage bedarf, formulierte Prof. Veronika von Messling, Bundesministerium für Bildung und Forschung: „Lösungen für die Pandemien von Morgen bietet auch nur die Technik von Morgen. Wir müssen Überraschungsmomenten wie mit Corona vorbeugen und Unbekanntes schon vor einer pandemischen Lage eingekreist haben.“
Dass auch von den politischen Vertretern aller Couleur keine Einwände in der Sache gemacht werden, macht unterdessen Hoffnung für die inhaltliche Arbeit. Auch wenn es viele der Anwesenden mit Wasem halten und „wir uns keine Illusionen machen müssen, dass noch 2022 oder 2023 Reformen spürbar sein werden.“
Was also bleibt, sind die Rufe nach Investitionen, die Bitte um (schnelle) Abhilfe in Sachen Struktur- und Finanzfragen, die Unterstützung in Fragen der Digitalisierung – kurzum das ewige Mantra der gesundheitspolitischen Forderungen. Nur dass man zunehmend froher Hoffnung sein kann, dass die gesundheitspolitischen Akteure und Lager auch ohne die Politik gemeinsame Wege finden.
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