Bald übernehme ich die Praxis von meinem Chef. Ein Punkt, der mir Sorgen macht, ist die Rufbereitschaft mit dem Palliativtelefon. Eins weiß ich jetzt schon: Das schaffe ich so nicht.
Mein Chef ist im Urlaub – das freut mich sehr für ihn. Und für mich ist es eine zeitlich begrenzte Möglichkeit, um Erfahrung damit zu sammeln, das Tagesgeschäft allein zu regeln. Das klappt inzwischen auch ziemlich gut, trotz kleinerer Probleme, wie akuter Krankheitsfälle mit massivem Personalmangel. Zum Beispiel hatten wir letzte Woche mal einen Vormittag, bei dem ich zwei von drei MFAs krankheitsbedingt nach Hause schicken musste. Zwei Ärzte und eine MFA ist schon eine echt knappe Besetzung. Aber das lässt sich alles irgendwie regeln.
Was mich momentan aber einfach fertig macht, ist unser Palliativtelefon. Grundsätzlich finde ich Palliativmedizin eine gute Sache. Eine Maximaltherapie ist oft weder sinnvoll noch vom Patienten gewünscht und viele unserer Patienten sind auch sehr klar in ihrer Ansage, wie sie sich ihr Lebensende vorstellen. Am liebsten zu Hause, ohne Schmerzen, betreut vom Hausarzt.
Das klingt ja auch alles sehr gut. Das Problem ist: Bei der Anzahl an Patienten weiß ich nicht, wie ich das dauerhaft stemmen soll. Denn so blöd das klingt, ab einer gewissen Patientenzahl ist fast immer irgendjemand im Sterbeprozess – ob im Heim oder zu Hause. Mein Chef schafft es irgendwie, damit leben zu können, dass er wirklich 24 Stunden pro Tag, 7 Tage die Woche sein Handy bei sich hat und damit für die Palliativpatienten über eine spezielle Rufnummer erreichbar ist.
Nach knapp 3 Wochen mit dem Telefon muss ich gestehen: Ich kann das nicht.
Ich bin normalerweise jemand, der sein Handy sehr bewusst nicht immer mit sich herumträgt. Jetzt muss ich die ganze Zeit aufpassen, dass ich es nicht irgendwo liegen lasse, wo ich es nicht höre. Und ja, gerade nachts fand ich es auch immer sehr angenehm, das Handy im Erdgeschoss zu lassen, damit ich auch nicht von jeder Textnachricht aufwache, wenn ich vergessen habe, es lautlos zu stellen. Aber all das geht ja nicht, ich soll ja erreichbar sein.
Das heißt: Jeden Abend nochmal checken, ob das Telefon auch auf dem Nachttisch liegt, morgens geht mehr oder weniger der erste Griff zum Handy. Weil man sich doch fragt, ob man es vielleicht überhört hat (und nein, ich will es auch nicht so laut stellen, dass sofort die ganze Familie am Bett steht).
Einmal in den drei Wochen hab ich es aus Versehen im Badezimmer liegen lassen und stellte morgens fest, dass ich zwischen vier und fünf Uhr morgens sechs (!) Anrufe hatte – von einer unterdrückten Rufnummer, so dass ich auch nicht zurückrufen konnte. Glücklicherweise klingelte es in dem Moment (5:45 Uhr) schon wieder und das Heim konnte mir endlich mitteilen, dass ich zum Totenschein kommen musste. Ganz ehrlich: Ich hab es in dem Moment nicht wirklich bedauert, dass ich die Nacht durchgeschlafen hab. Denn der Totenschein konnte die drei Stunden meines Erachtens nach warten (auch wenn ich weiß, dass er juristisch „unverzüglich“ auszufüllen ist, aber das hab ich ja auch gemacht, als ich davon erfuhr).
Und ja, das ist eigentlich auch nicht wirklich palliativ, aber wenn so eine Nummer verfügbar ist, wird sie auch genutzt. Und insgesamt in den letzten drei Wochen auch in den meisten Fällen irgendwie gerechtfertigt, weil jemand im Sterben liegt und Hilfe braucht.
Aber so sehr mir meine Patienten auch am Herz liegen – das tut meine Familie auch. Und es war in den letzten drei Wochen so, dass ich wirklich fast jeden (theoretisch freien) Tag, wie Wochenende oder Mittwoch, mindestens einmal angerufen wurde und fast immer auch raus musste. 20 Minuten Anfahrt zum Heim, feststellen, dass es wirklich eine hochpalliative Situation/Sterbephase ist, nochmal mit den Angehörigen sprechen, um die Medikation kümmern, in den allermeisten Fällen also Morphin spritzen und dafür sorgen, dass danach die Pflege übernehmen kann. Insgesamt meistens so 1 bis 1,5 Stunden pro Besuch. An einem Samstag konnte ich es mal rein telefonisch regeln, dafür musste ich Sonntags dann morgens und abends hin. Teils in extremer Hektik, weil ich eigentlich meinem Sohn versprochen hatte, mit zu seiner Veranstaltung zu kommen (das Frühstück bestand dann am Sonntag aus drei Löffeln runtergeschlungenem Müsli in unter fünf Minuten). Das geht so einfach nicht.
Ich möchte niemanden im Stich lassen. Und ich habe leider mehrfach mitbekommen, dass Ärzte im KV-Dienst den Patienten doch nochmal ins Krankenhaus einweisen, aus Angst, einen Fehler zu machen. Oder schlichtweg weder Morphin verfügbar haben, noch BTM-Rezepte, um es zu verschreiben (wobei die Apotheken am Wochenende ja auch oft 30–40 km weg sind und das Heim eh niemanden schicken kann, um die Medikamente abzuholen). Das ist alles Murks und sicher ist da ein fester Hausarzt-Ansprechpartner eine bequeme und gute Lösung für viele dieser Probleme.
Aber ich kann es nicht alleine auffangen – ich merke ja nach drei Wochen schon, dass mich das extrem schlaucht und ich gehe davon aus, dass ich die Praxis noch mehr als 20 Jahre führen möchte. Das passt nicht zusammen. Und ganz ehrlich: Auch wenn ich das mit professioneller Distanz sehe, aus manchen Situationen kommt man nicht sofort emotional wieder raus. Und dann habe ich das Gefühl, dass ich auch meinen Kindern nicht mehr gerecht werden kann. Die haben nämlich auch ein Recht darauf, eine Mama zu haben, die dann einfach mit ihnen spielt oder schwimmen geht. Mal ohne Handy und ohne dauernde Gedanken an den letzten Palli-Anruf.
Jetzt kommt natürlich sofort jemand mit „Was ist denn mit einem SAPV-Dienst?“ und meint damit die spezielle ambulante Palliativ-Versorgung.
Haben wir hier nicht. Zu ländlich, zu dünn besiedelt, dass sich das wirklich lohnen würde.
Wenn überhaupt, hatte sich mal ein Palli-Pflegedienst interessiert, aber auch da war das Engagement begrenzt. Einer unserer regulären Pflegedienste versorgt die Palliativpatienten mit. Aber ja, auch da kenne ich mehrere Pflegekräfte, die nach einiger Zeit einfach nicht mehr können. Es sind zu viele Menschen zu versorgen mit zu wenig Personal. Wie quasi überall.
Das ist vielleicht sogar das Schlimmste – ich sehe da kein Licht am Ende des sprichwörtlichen Tunnels. Mir tun die Patienten leid, aber ich sehe wenige Optionen, wie man das Problem in absehbarer Zeit lösen kann. Für das konkrete Problem mit der ärztlichen Rufbereitschaft am Pallitelefon: Es gibt maximal noch eine andere Praxis, die die Palliativpatienten in einem Rotationssystem mitbehandeln würde (viele andere Kollegen wohnen auch schlicht zu weit weg). Aber so eine Kooperation bedeutet halt auch noch mehr Zeit an anderer Stelle. Für jeweils kurzfristige Übergaben zwischen den Praxen, für noch mehr Patienten, noch mehr Wege, da die Praxis einen anderen Einzugsbereich hat.
Die anderen Praxen in unserer Umgebung stehen für so etwas nicht zur Verfügung. Was natürlich bei uns auch dafür sorgt, dass gerade am Lebensende viele lieber zu uns wechseln möchten, was wir aber nicht leisten können. Das sagt sogar mein Chef – und nimmt die allermeisten Palliativpatienten dann doch, weil sie ihm leidtun.
Aber den Weg meines Chefs (dessen einziges Kind schon seit Jahren aus dem Haus ist und der deutlich zentraler wohnt) kann ich nicht so weitergehen. So leid mir meine Patienten auch tun. Auch ich brauche Ruhepausen.
Aktuell überlege ich als erste Lösung eine Art Kompromiss: Es wird ein Palli-Telefon geben, aber mit der direkten Ansage, dass ich entweder rangehe, oder eben nicht. Wenn nicht, rufe ich (wenn eine Nummer angezeigt wird) dann zurück, wenn es geht. Und die Nächte sind tabu.
Natürlich werden dann wieder Worte fallen wie „Wir haben Sie ja nicht erreicht …“, wenn es mal nicht optimal läuft. Aber damit werde ich dann leben müssen. Denn das, was sich aktuell gerade abzeichnet, ist eine Art von Leben, die ich nicht führen kann und will.
Bildquelle: Danny SwellChasers, Unsplash