Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Chorea Huntington oder Morbus Alzheimer fanden Wissenschaftler überraschend hohe Harnstoff- und Ammoniakwerte. Darin sehen sie nicht nur diagnostische Marker, sondern auch neue Zielstrukturen für die Therapie.
Erkranken Patienten an der erblichen neurodegenerativen Erkrankung Chorea Huntington, bildet ihr Körper aufgrund von Mutationen im Huntingtin-Gen (HTT) ein instabiles Protein. Dieses veränderte Huntingtin besitzt mehr als die übliche Anzahl aneinandergereihter Glutamin-Reste. Es kann nicht abgebaut werden, so dass intrazelluläre Ablagerungen auftreten. Freies, mutiertes Huntingtin scheint in Zellen aber auch toxisch zu wirken und Änderungen im Stoffwechsel auszulösen. Trotz aller Ansätze ist nicht klar, warum Schäden vor allem im Bereich des Striatums auftreten, obwohl Huntingtin in allen Neuronen exprimiert wird.
Renee R. Handley von der School of Biological Sciences, University of Auckland, kann das Rätsel zwar nicht lösen. Zusammen mit Kollegen ist es ihr aber gelungen, einen vielleicht entscheidenden Aspekt im Stoffwechsel aufzuklären. „Wir wissen bereits, dass Chorea Huntington eine Krankheit ist, die durch ein fehlerhaftes Gen in unserer DNA verursacht wird – aber bis jetzt haben wir nicht verstanden, wie es zu Gehirnschäden kommt“, sagt Coautor Garth J.S. Cooper von der Universität Manchester. Handley und Cooper arbeiteten mit transgenen OVT73-Schafen als Prodromal-Modell. Das heißt, ihre Neuronen exprimieren zwar geringe Mengen humanes Huntingtin. Die Versuchstiere zeigen aber keine Symptome oder gar neuronale Läsionen. Besonderheiten gab es trotzdem. „Wir haben im Striatum zusammen mit anderen wichtigen osmotischen Regulatoren signifikant erhöhte Konzentrationen des Harnstofftransporters SLC14A1 gefunden“, fasst Handley zusammen. „Weitere Untersuchungen zeigten erhöhte Harnstoffwerte im Striatum und Cerebellum, was mit unseren kürzlich veröffentlichten Beobachtungen im postmortalen menschlichen Gehirn von Huntington-Patienten übereinstimmt.“ Als mögliche Erklärung sieht Handley einen erhöhten Proteinkatabolismus aufgrund zellulärer Defekte durch die Erkrankung. Harnstoff und Ammoniak sind Produkte des Proteinstoffwechsels. Durch die steigenden Harnstoff- und Ammoniakwerte kommt es zu neurologischen Beeinträchtigungen.
Damit nicht genug. Im Rahmen einer Fall-Kontroll-Studie mit menschlichen Proben hat Cooper sieben Gehirnregionen untersucht. Er fand „überzeugende Beweise, dass Alzheimer eine metabolische Gehirnerkrankung ist“. Das betrifft Defekte im Energie- und im Aminosäure-Stoffwechsel inklusive Harnstoff. „Alzheimer und Huntington sind an entgegengesetzten Enden des Demenz-Spektrums zu finden – da unsere Befunde für diese Typen zutreffen, glaube ich, dass es sehr wahrscheinlich für alle großen altersbedingten Demenzen gilt“, konstatiert Cooper. Was haben Mediziner von seiner Erkenntnis?
„Ärzte wenden bereits Medikamente gegen hohe Ammoniakkonzentrationen in anderen Teilen des Körpers an“, weiß Cooper. Bei der hepatischen Enzephalopathie senkt Lactulose entsprechende Werte im Blut. Cooper: „Es wäre denkbar, dass eines Tages Arzneistoffe in der Lage ist, dem Fortschreiten der Demenz Einhalt zu gebieten.“ Harnstoff könne sich aber auch als diagnostischer Marker eignen, um Demenzen lange vor dem Auftreten erster Symptome zu erkennen.