Der Kinderdok hat immer mal wieder seinen Corona-Senf zu unseren Blogs beigetragen. Nach einigen Monaten der Abstinenz gibt’s jetzt endlich wieder was Scharfes – mit groben Körnern.
Natürlich ist es viel zu früh für eine Bilanz nach COVID-19. Wir sind noch mittendrin. Die Zahlen steigen wieder, ich merke es jeden Tag. Klar hatten wir am Anfang des Jahres vermutlich pro Tag zehn oder zwölf positive PCR-Tests bei den Kindern und Jugendlichen in unserer Praxis, inzwischen sind es nur noch einer oder zwei und vielleicht mal einen Tag gar keiner. Aber das liegt sicher an den geringeren Testempfehlungen – vorsichtig ausgedrückt –, den fehlenden anlasslosen Tests, wie sie in der Schule zur Tagesordnung gehörten und dass die Isolationsempfehlungen viel „entspannter“ wahrgenommen werden als zuvor.
Wenn ich den Eltern sage, nach dem positiven PCR-Test müsse das Bobele nun fünf Tage isoliert werden und könne sich frühestens am fünften Tag (wohlgemerkt!) symptomfrei freitesten, wird der zweite Teil schon gar nicht mehr gehört. Das treibt die Zahlen in die Höhe, vor allem das Dunkelfeld.
Ich wage trotzdem eine Bilanz. Aus reiner Praxissicht haben wir, wie viele andere auch, die härtesten zweieinhalb Jahre hinter uns, die ich bisher erlebt habe. Nicht, dass die Kinder schwer erkrankten, das hat sich bis auf sehr wenige Ausnahmen nicht bewahrheitet – wir bangen um jeden Säugling, der coronapositiv getestet wird. Aber das Gesamtgefüge einer Kinder- und Jugendarztpraxis scheint auf den Kopf gestellt.
Wir mussten so manche Personalengpässe, sprich Erkrankungen, überbrücken, viel mehr als die letzten Jahre. Beide Ärzte waren an Corona erkrankt, beide zeigen noch zu interpretierende Post-Covid-Symptome, viele fMFAs hat es erwischt und wenn nicht sie, so doch ihre Kita- oder Schulkinder. Trotz Impfungen. Trotz strenger Maskenpflicht. Trotz dieser Plexiglasabsperrungen. Ausfälle, die wir innerhalb des Personals kompensieren mussten, was für alle anderen zu mehr Stress führte und mehr Stress bedeutet mehr Anfälligkeit. Auch Kollegen anderer Praxen sind erkrankt. Wir haben so viele vertreten, wie sie sicher auch uns. Das ist Ausgleich, aber es führt zu Verwerfungen.
Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen mussten verschoben werden. In den ersten Lockdowns haben wir sehr streng triagiert, wir mussten Vakanzen schaffen im Terminkalender für viele Erkrankte, aber auch viele Tests, Verdacht-Tests, Frei-Tests und Vor-dem-Urlaub- oder Vor-dem-Krankenhaus-oder-der-Kur-Tests. Manche Vorsorgen haben wir komplett gestrichen, die meisten Eltern haben es verstanden, so manche nicht. Jeder sieht den eigenen Horizont und der ist kurz hinter der Nasenspitze. Wir holen noch immer verschobene Untersuchungen nach, vor den großen Ferien wird es stets besonders eng.
Aber ich darf nicht jammern. Als Mediziner genießen wir einen Beruf, der in der Pandemie nicht bedroht war. Die Verdienstrückgänge, die wir ganz klar hatten, sind kompensierbar, dank Kurzarbeit (die die fMFA klaglos mitgetragen haben) kamen wir sehr gut über die Runden. Ich wäre gerne Musiker oder Kneipenbesitzer, aber nicht in der Pandemie.
Ich erinnere noch gut die Zeit Anfang 2020, als wir vor allem froh waren, dass „diese Krankheit nicht die Kinder betrifft“, so die Denke damals. COVID-19 verläuft mild, Kinder sind praktisch nicht betroffen, es wurde sogar bezweifelt, ob sie die Krankheit überhaupt übertragen. Das änderte sich schnell in der Denkweise hin zu den Schul- und Kindergartenschließungen.
Erster Gedankenreflex vieler Leute war, dass diese Eindämmungsmaßnahme eines Virus wichtig, konsequent und effektiv sei. Die Wirtschaft muss laufen, das Geld muss fließen, Geschäfte und Arbeitsstellen müssen offen bleiben – dank Homeoffice gelang dies sogar sehr gut. Aber die Kinder litten. Für viele bietet die Zeit, die sie in den Betreuungen und Bildungseinrichtungen verbringen, sehr wichtige Rückzugsmöglichkeiten, nicht nur vor einem familiären Umfeld, das mancherorts zerrüttet ist. Sozialkontakte mit Gleichaltrigen sind essenziell für die Entwicklung, egal in welchem Alter (sogar für uns Erwachsene), das ließ die Kinder bitter leiden.
Viele Lehrer haben während der Bildschirmunterrichtszeiten Enormes geleistet. Sie mussten sich in neue Formen der Bildungsvermittlung einarbeiten, neue Konzepte entwickeln und an vielen Schulen wurde durch das Home-Schooling viel Gutes und Neues im digitalen Bereich entwickelt. Schade nur, dass mit jeder neuen Welle der Eindruck entstand, das Rad müsse wieder neu erfunden werden.
Es gab Kinder, die die Home-Schooling-Phasen genossen. Es gibt schließlich Kinder, für die ist der Schulbesuch ein täglicher Horrortrip – weil sie dort gemobbt und drangsaliert werden, weil sie im Klassenverband untergehen, weil die Chemie zum Lehrer nicht stimmt. Sie genossen das Daheimbleiben, das manchmal strukturiertere Arbeiten, die Geborgenheit und vielleicht auch Unterstützung in der Familie. Diese Kinder erarbeiteten sich computeraffin durch den Bildschirmunterricht einen Vorteil, den sie im Live-Unterricht nie gehabt hätten. Aber das waren nicht viele.
Einiges offenbarte das Prinzip der Schulschließungen und des Home-Schoolings: Für die allermeisten Schüler war es keine gute Lösung. Die Leistungen der Grundschüler sind während der Pandemiezeit deutlich zurückgegangen, die große Gruppe der Migranten wird dabei noch gar nicht gesehen. Die Sozialkontakte fehlten, Freundschaften verkümmerten, die Auseinandersetzung Face-to-Face mit allen Facetten, guten wie schlechten, fand nicht statt. Familien kamen an ihre Belastungsgrenzen der Organisation – permanente Präsenz aller Familienmitglieder und die aufgezwungene Disziplin, jedem den Freiraum, die Ruhe und Konzentration zu gönnen, die bei parallelem Home-Schooling und -Office vonnöten waren.
Die Schulschließungen wurden uns auch als Schutz der Kinder verkauft, neben der Eindämmung des Virus. Aber diese Zeiten waren begrenzt, irgendwann sollten die Schulen wieder öffnen. Aber es gab und gibt weiter keinen effektiven Plan zur Verbesserung der Schulen, keine Luftfilter, keine Konzepte von zeitversetztem Unterricht, keine Möglichkeit von parallelem Präsenz- wie Online-Unterricht. Vieles funktioniert vielerorts, aber nicht überall. Man hat das Gefühl, dass wir bei einer nächsten Pandemie auch hier wieder von vorne beginnen. Zu viel Eigeninitiative der einzelnen Schulen, ja, der einzelnen Lehrer wurde verlangt, dies gelang nur nicht immer.
Der Föderalismus im Schulischen führte zu Schieflagen des Schutzes und der Betreuung über die Landesgrenzen hinweg. Hier hätte man sich mehr klare Linien und Einigkeit gewünscht. Im Gegensatz dazu wurden wiederum die Belange der einzelnen Schüler nicht berücksichtigt, individuelle Entscheidungen mussten von Eltern mühsam erkämpft werden.
Der Umgang mit den Impfempfehlungen bleibt weiterhin einer der umstrittensten Aspekte der gesamten Pandemie. Der sehnlich erwartete Impfstoff wurde dann – ganz typisch deutsch – stufenweise ausgegeben, statt wirklich jedem von Anfang an den direkten Zugang zu ermöglichen. Andere Länder sind da großzügiger und damit vielleicht weitsichtiger gewesen.
Zu großer Unsicherheit führte die abgestufte Zulassung der Impfstoffe für Kinder und Jugendliche – und sie tut es noch immer. Während die US-amerikanischen Behörden viel schneller handelten und ihre Empfehlungen aussprachen, zögern die europäischen und deutschen Entscheider. Ich zeige dabei nicht nur auf die STIKO, sondern auch auf die Fachgesellschaften der Kinderärzte, DGKJ und BVKJ. Sie verschanzten sich zwar hinter ihren wissenschaftlichen Erklärungen, das müssen sie auch, aber so oft sie sich als „Anwälte der Kinder“ verstehen, so wären sie besser aus dem Versteck gekommen und hätten sich den Ängsten der Eltern gestellt.
Denn das alles lässt Eltern sehr verunsichert und desinformiert zurück, die Transparenz der Kommunikation war unzulänglich. Wenn wir in der Praxis alle zwei Wochen neu verstehen müssen, welche Corona-Auflagen gerade aktuell sind und wie nun genau die Impfempfehlungen der STIKO umgesetzt werden, wie sollen das Eltern verstehen? Und wie sollen wir ihnen das erklären?
Kindern wurden erst die Schulen geschlossen. Jetzt sind die wiedereröffneten Schulen nicht sicher vor Infektionen. Die Impfempfehlungen sind nicht allumfassend und die Zulassungen haben zu lange auf sich warten lassen. Post- und Long-Covid-Erkrankte werden vernachlässigt, zahlenmäßig negiert, die bestehenden Spezialambulanzen sind überlaufen.
Wir verzeichnen in den Praxen eine Zunahme an Übergewicht bei Kindern, eine Zunahme an Nachfragen nach psychotherapeutischer und psychiatrischer Unterstützung, weil Kinder und Jugendliche vermehrt soziale Ängste zeigen und zum Schulschwänzen neigen. Was in den Familien passiert, aufgrund hoher Belastung durch Home-Office und -Schooling, können wir noch gar nicht absehen. Jugendliche leiden unter Depression und Schulangst, allgemeinen sozialen Ängsten. Die Zahl der Essstörungen, insbesondere der Anorexien, nehmen deutlich zu. Müßig zu erwähnen, dass es zu wenig gute Anlaufstellen, vor allem psychotherapeutische Stellen gibt.
Die Aufarbeitung der Pandemie bei Kindern und Jugendlichen beginnt jetzt erst. Die Bilanz sieht schlecht aus. Ach, warte: Das hier ist ja keine Bilanz, die Pandemie ist noch gar nicht vorbei.
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