Bei der „Startle disease“ (Hyperekplexie) gelangen wenige mutierte Rezeptoren bis zur Zellmembran, bilden dort aber keine intakte Kanalpore. Somit führt die Aminosäurenmutation nicht unweigerlich zu einer massiven Protein-Fehlfaltung, die durch das ER blockiert würde.
„Wenn Signale vom Rückenmark zu den Muskeln weitergeleitet werden, ist ein Gleichgewicht zwischen Prozessen der Erregung und der Hemmung essentiell, um kontrollierte Bewegungen zu ermöglichen“, sagt Prof. Dr. Carmen Villmann. Übererregung oder eine fehlende Hemmung können diesen Prozess stören. Bei den Betroffenen der Bewegungsstörung „Startle Disease“ funktioniert die hemmende Signalvermittlung nicht mehr fehlerfrei, in der Folge werden Muskeln übererregt und versteifen.
Im Rückenmark wird die Inhibition durch Glycinrezeptoren vermittelt. Diese Rezeptorproteine formen Poren in der Membran von Nervenzellen und lassen nur negativ geladene Chlorid-Ionen passieren. Fällt ein derartiger Rezeptor aus, ist die Balance zwischen Erregung und Inhibition zugunsten der Erregung verschoben; die Muskeln verkrampfen. Im Fall der „Startle Disease“ handelt es sich um eine vererbbare Erkrankung, deren Auslöser Gendefekte sind. „Bisher ging die Wissenschaft bei der Startle Disease von einer Entweder-oder-Antwort der Zelle aus“, erklärt Villmann. Soll heißen: Dominante Mutationen in den Glycinrezeptoren, die sich fast alle in der Ionenkanalpore befinden, wurden normal transportiert, gehen aber aufgrund ihrer Dominanz mit einer gestörten Kanalleitfähigkeit einher. Rezessive Mutationen bedingen aufgrund ihrer Lokalisation im Protein eine Fehlfaltung des entstehenden Proteins; diese werden auf ihrem Syntheseweg aussortiert. Wie die Arbeitsgruppe von Villmann jetzt zusammen mit Wissenschaftlern aus Cambridge herausfand, stimmt diese All-or-None-Annahme allerdings nicht. Bevor die Zelle ein neues Rezeptormolekül in ihre Membran einbauen kann, muss dieses Protein auf seinem Syntheseweg mehrere Bestandteile der Zelle durchlaufen. Sind Proteine aufgrund von Mutationen fehlgefaltet, sorgt das Qualitätskontrollsystem im endoplasmatischen Retikulum (ER) dafür, dass diese Proteine nicht weitergeleitet werden.
Für ihre Studie untersuchten die Forscher zunächst neu-identifizierte Mutationen aus Patienten in Zellkultursystemen. „Dabei entdeckten wir, dass ein geringer Anteil der mutierten Rezeptoren durchaus bis zur Zellmembran gelangt, aber keine funktionierende Kanalpore ausbildet“, sagt Villmann. Da derartige Effekte auch durch die Überproduktion der Proteine in künstlichen Zellkultursystemen hervorgerufen werden können, untersuchten die Forscher anschließend die mutierten Kanalproteine in Systemen, die nur zu niedriger Expression des Kanalproteins führen sowie in Neuronen. „Trotzdem konnten wir die gleichen Effekte beobachten: Subpopulationen erreichen die Zellmembran, sind aber zu wenige, um die eigentliche Funktion des Rezeptors aufrechtzuerhalten“, so Villmann. Dabei ermöglichte ein Blick in die Zellkompartimente eine genaue Verfolgung jedes mutierten Kanalproteins: Einige gelangten bis in den Golgi-Apparat und dann auch zur Zellmembran, andere erreichen nur das ERGIC-Kompartment, tauchten aber weder im Golgi-Apparat noch in der Membran auf.
Aus dieser Beobachtung zog das Wissenschaftler-Team folgende Schlussfolgerung: „Die Mutation einer einzelnen von rund 500 Aminosäuren im Rezeptor muss nicht unweigerlich zu einer massiven Fehlfaltung des Proteins führen, die eine Weiterleitung vom endoplasmatischen Retikulum blockiert“, erklärt Villmann. Dafür spreche auch die Tatsache, dass alle mutierten Rezeptoren durch Zuckermoleküle markiert wurden, was Voraussetzung für den Export aus dem endoplasmatischen Retikulum ist. Dennoch können nur wenige der mutierten Rezeptoren die Qualitätskontrolle der Zelle umgehen und zum eigentlichen Zielort, der Neuronenmembran, gelangen. „Es müssen also weitere Kontrollmechanismen in den Folgekompartimenten existieren“, so Villmann. Ob die Proteine zum endoplasmatischen Retikulum zurückgelangen oder direkt von Kompartimenten wie ERGIC und Golgi-Apparat der Degradation zugeführt werden, ist noch unbeantwortet. Originalpublikation: Disturbed Neuronal ER-Golgi Sorting of Unassembled Glycine Receptors Suggests Altered Subcellular Processing Is a Cause of Human Hyperekplexia Carmen Villmann et al.; The Journal of Neuroscience, doi: 10.1523/JNEUROSCI.1509-14.2015; 2015