Manche Zeckenstiche können unerwartete Folgen haben – und gemeint ist nicht die Borreliose. Was die Plagegeister mit eurem Steak zu tun haben und ob wir jetzt alle Vegetarier werden müssen, lest ihr hier.
Was verbindet Zeckenstiche und rotes Fleisch? Einiges, auch wenn viele das nicht wissen: Manche Zeckenstiche können dazu führen, dass Menschen eine allergische Reaktion auf diverse Arten von rotem Fleisch entwickeln. Wie die Zusammenhänge genau sind und seit wann die Medizin davon weiß, diese ganze Geschichte hat der Pneumologe Dr. Avraham Cooper aus Ohio im Rahmen eines Twitter-Tutorials zusammengetragen.
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Die ersten Berichte gab es Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Die Ärztin Sandra Latimer und der Arzt Antony Deutsch aus dem US-Bundessstaat Georgia sammelten damals Fallberichte zu verzögerten allergischen Reaktionen auf rotes Fleisch. Sie berichteten über insgesamt zehn Patienten im Jahr 1991 während eines Meetings der Georgia Allergy Society und stellten die Hypothese auf, dass diese allergischen Reaktionen mit Zeckenstichen in Zusammenhang stehen könnten. Denn Zeckenstiche waren der gemeinsame Nenner all dieser zehn Patienten.
Das Ganze erregte Aufmerksamkeit, wurde auch publiziert, geriet dann aber wieder ein bisschen in Vergessenheit. Bis 18 Jahre später erneut über eine Fallserie mit diesmal 25 Patienten berichtet wurde. Seither gilt der Zusammenhang als solide und weitgehend über Zweifel erhaben. Nur: Was liegt ihm zugrunde? Warum werden Menschen, die von Zecken gestochen werden, plötzlich zu Allergikern auf rotes Fleisch?
Der Strick, der Zecken und Fleischallergie zusammenschnürt, ist wahrscheinlich das Kohlenhydrat Galactose-α-1,3-Galactose (Alpha-Gal), ein Oligosaccharid, das Teil von Glykoproteinen und Glykolipiden in Zellmembranen von Säugetieren, nicht aber Primaten, ist. Primaten, und damit auch Menschen, fehlt die Alpha-1,3-Galaktosyltransferase, also das Enzym, mit dem andere Säugetiere Galactose-α-1,3-Galactose herstellen. Evolutionäre Details dazu gibt es hier.
Dass Primaten kein Galactose-α-1,3-Galactose herstellen können, hat möglicherweise Vorteile im Hinblick auf – COVID-19 lässt grüßen – Virus-Spillovers. Denn Viren, die von Nicht-Primaten auf Primaten überspringen, sind oft eingehüllt in Strukturen, die Galactose-α-1,3-Galactose enthalten und die deswegen vom Immunsystem der Primaten als fremd erkannt und beseitigt werden.
Nun ist der Mensch als oft fleischfressendes Wesen beim Genuss anderer Säugetiere und damit in der Regel roten Fleischs gegenüber Galactose-α-1,3-Galactose als Teil der Fleischmahlzeit exponiert. Unter Normalbedingungen scheint das Immunsystem damit aber ganz gut umgehen zu können. Immerhin laufen wir nicht ständig rot an und bekommen Atemnot, wenn wir Grillfleisch zu uns nehmen. Anders sieht es aus, wenn das Immunsystem gegenüber Galactose-α-1,3-Galactose speziell sensibilisiert wird.
Und hier kommen die Zecken ins Spiel, nicht irgendwelche und nicht alle, aber zumindest die in den USA häufigsten Zecken Ambylomma americanum, in hiesigem Sprachgebrauch auch – nicht ganz korrekt – „amerikanische Waldlaus“ genannt. In deren Speichel findet sich das Enzym Galactosyltransferase, also jenes Enzym, das der Mensch als Wirt der Zecke nicht besitzt. Und dieses Enzym produziert, keine Überraschung, Galactose-α-1,3-Galactose. Das Kohlenhydrat ist entsprechend auch im Zeckenspeichel und anderen Körperflüssigkeiten der Zecke enthalten. Und auf diesem Weg gelangt es im Falle eines Zeckenstichs in die Haut des nichtsahnenden Opfers.
Der Rest ist klassische Immunologie: Die Exposition gegenüber Galactose-α-1,3-Galactose auf dem nicht-oralen Weg über den Zeckenstich führt zu einer Sensibilisierung, die wahrscheinlich IgE-vermittelt ist. Und das Ergebnis, siehe dieses eindrucksvolle Bild, sind allergische Reaktionen unter anderem gegen Milch, Schweinefleisch, Rindfleisch und Lammfleisch.
Vollständig geklärt sind alle Details dieser bizarren Geschichte allerdings noch nicht. Eine zentrale Frage ist natürlich, warum diese Allergien auf rotes Fleisch nicht viel häufiger sind, in Anbetracht der hohen Zahl an Zeckenstichen. Denkbar ist, dass die „Selbstsynthese“ von Galactose-α-1,3-Galactose durch die Zecken gar nicht so sehr das Problem ist. Es gibt auch die Hypothese, dass Galactose-α-1,3-Galactose erst durch vorausgehende Zeckenstiche bei Nicht-Primaten in relevant großem Umfang in die Zecke gelangt – und dass vielleicht nur derart „überladene“ Zecken allergologisch problematisch werden. Eine andere Hypothese lautet, dass nur jene Zecken in relevantem Umfang Galactose-α-1,3-Galactose mit sich herumtragen, die im Speichel bestimmte Bakterien beherbergen, die Galactose-α-1,3-Galactose herstellen.
Medizinisch ist Galactose-α-1,3-Galactose übrigens kein ganz unbekannter Übeltäter. Erst kürzlich ging es groß durch die Medien, auch wenn das die meisten nicht bemerkt haben dürften. Galactose-α-1,3-Galactose ist ein Epitop, das wesentlich verantwortlich für die Abstoßung von xenotransplantierten Organen ist. Ein kürzlich in den USA transplantiertes Schweineherz war genetisch (unter anderem) dahingehend verändert, dass dieses Oberflächenantigen nicht mehr exprimiert wurde. Der Patient hat es bekanntlich trotzdem nicht überlebt (wir berichteten). Dass sich hier – unabhängig von allen Transplantationen – ein Ansatzpunkt bietet, transgene Fleischprodukte zum Konsum durch Galactose-α-1,3-Galactose-Allergiker zu entwickeln, sei nur nebenbei erwähnt.
Bildquelle: amirali mirhashemian, unsplash