Hochburg der toxischen Alkoholkultur in Europa ist: Deutschland. Das zeigen zumindest aktuelle Zahlen. Wir haben für euch genau hingeschaut – wie groß ist unser Trinkproblem wirklich?
Es ist ein Preis, auf den man wohl lieber verzichtet hätte: Deutschland ist die europäische Nummer 1 des gefährlichen Trinkverhaltens. Zu diesem Schluss kommt zumindest die britische Reha-Einrichtung Delamere Health in einer aktuellen Untersuchung. Auf Grundlage der alkoholbedingten Todesfälle, dem durchschnittlichen Alkoholkonsum und auch eher ungewöhnlichen Daten wie der Anzahl an Kneipen, Clubs und Alkohol-Touren oder Google-Suchanfragen berechneten die Forscher für jedes Land einen Score zwischen 0 und 70 – je niedriger der Wert, desto toxischer die Trinkkultur. Mit einem Score von nur 15,8 setzten die Forscher Deutschland an die Spitze; Frankreich (16,2) und UK (17,7) folgen auf den Plätzen 2 und 3.
Wie kommt Deutschland zu seinem traurigen Spitzenwert? Hauptsächlich ausschlaggebend dürften die hohe Todesrate (4,32/100.000 Einwohner), die große Anzahl an Kneipen (3.671) und der grundsätzlich hohe jährliche Alkoholkonsum von 12,79 L Reinalkohols pro Kopf pro Jahr gewesen sein.
Die Studie ist zugegebenermaßen nicht die verlässlichste und lässt einen mit einem Stirnrunzeln zurück. Während sich auch andere bekannte Vieltrinker-Länder wie Irland, Belgien oder Polen in den Top 10 wiederfinden, fehlen beispielsweise die skandinavischen und baltischen Länder, die sich üblicherweise auch mit einem hohen Alkoholkonsum hervortun. Lettland beispielsweise übertrifft Deutschland laut Delamere mit seiner alkoholbedingten Todesrate (8,83/100.000), Alkoholkonsum (13,19 L pro Kopf pro Jahr) und auch dem Anteil an Alkoholikern im Land (15,5 % vs. 6,8 %). Trotzdem landet es nur auf Platz 15 mit einem Gesamtscore von 35,8/70 – vermutlich, weil es in den weniger verlässlichen Kategorien wie die Anzahl Kneipen auf TripAdvisor und Internetsuchanfragen zu „Alkohollieferung“ oder ganz unspezifisch „Alkohol“ im Vergleich zu anderen Ländern deutlich abgeschlagen ist.
Trotzdem ist die Untersuchung aber ein guter Anlass um einmal zu fragen: Wie groß ist das deutsche Alkoholproblem? Denn in einem hat die Delamere-Untersuchung recht, Deutschland hat ein großes – und gerne ignoriertes – Trinkproblem. Das zeigen Zahlen seriöserer Quellen wie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) und dem RKI deutlich.
Die einzige gute Nachricht vorweg: Seit den 80ern geht der Alkoholkonsum in Deutschland zurück. Lag der durchschnittliche Verbrauch im Jahr 1980 noch bei 15,1 L Reinalkohol pro Kopf waren es im Jahr 2019 nur noch 10,2 L – im internationalen Vergleich ist dies allerdings immer noch eine sehr hohe Zahl. Ein Blick auf Zahlen der Deutschen Spirituosenindustrie macht deutlich, um was für Mengen es tatsächlich geht: Diese rund 10 Liter puren Alkohols entsprechen rund 123,8 L an Bier, Wein und Schnaps, die der durchschnittliche Deutsche im Jahr trinkt. Geht der Trend im aktuellen Tempo weiter, braucht Deutschland auch noch 54 weitere Jahre, um ein niedriges Konsumlevel von jährlich 6 L Reinalkohol pro Kopf zu erreichen.
Der Konsum verursacht wie zu erwarten erhebliche gesundheitliche und soziale Probleme. Laut DHS gibt es 3 Mio Erwachsene im Alter von 18–64 Jahren, die abhängig sind oder Alkohol missbrauchen. Das RKI stellte 2017 fest, dass 14 % der Frauen und 18 % der Männer gesundheitlich riskante Mengen von mehr als 10 g Alkohol/Tag, respektive 20 g/Tag trinken (und selbst diese Grenzwerte für den „sicheren“ Konsum könnten neueren Untersuchungen zufolge zu hoch sein.) Auch das regelmäßige Rauschtrinken ist verbreitet: Ein Viertel aller Frauen und rund 43 % der Männer betrinken sich mindestens einmal im Monat.
Die Folgen sind nicht überraschend: Um die 115.000 Behandlungen aufgrund akuter Alkoholintoxikationen und etwa 74.000 durch Alkohol- oder Ko-Konsum mit Tabak bedingte Todesfälle werden jährlich in Deutschland verzeichnet – mehr Tote, als im vergangenen Jahr durch SARS-CoV-2 zu verbuchen waren (70.798 laut RKI). Statista zufolge wurden im Jahr 2020 31.540 Autounfälle unter Alkoholeinfluss gemeldet, dabei wurden 156 Personen getötet und 15.491 verletzt.
Das Problem schlägt sich auch finanziell zubuche: Durch Krankenhausaufenthalte, Medikamente und sonstige Behandlungen entstehen dem ohnehin gebeutelten Gesundheitssystem direkte Kosten von 16,59 Milliarden Euro – Kosten, die mit besserer gesundheitlicher Aufklärung und vor allem einer strengeren Preispolitik wahrscheinlich vermeidbar wären.
Da Alkoholkonsum einer der führenden Risikofaktoren für gesundheitliche Probleme und Mortalität ist, wäre ein gesellschaftlicher Richtungswechsel also wohl mehr als angebracht.
Bildquelle: Georg Arthur Pflueger, unsplash