Das Reizdarmsyndrom ist für Ärzte und Patienten eine undankbare Erkrankung. Die Symptome sind diffus, die Auslöser vielfältig und es gibt keine etablierte Standardtherapie. Eine neue Leitlinie soll Abhilfe schaffen.
Das Reizdarmsyndrom (RDS) zeichnet sich durch chronische oder rezidivierende Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Blähungen aus, die häufig auch mit Stuhlgangsveränderungen einhergehen. Die Beschwerden sind dabei so stark, dass sie die Lebensqualität von Patienten relevant beeinträchtigen. Bevor aber die Diagnose RDS steht, müssen meist andere Erkrankungen, die ebenfalls zu diesen Veränderungen führen können, ausgeschlossen werden.
Obwohl die Krankheit bereits vor etwa 3.000 Jahren das erste Mal beschrieben wurde, haben sich das Verständnis um grundlegende Mechanismen und Konzepte für das praktische Management des RDS in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich weiterentwickelt. Die neue S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) soll Ärzten nun den aktuellen Wissensstand vermitteln.
Im Laufe der Zeit bekam die heute als RDS bezeichnete Erkrankung viele Namen: funktionelle Diarrhoe, nervöse Diarrhoe, vegetative Neurose, Dyssynergie des Colons, Colonspasmen, spastisches Colon, Enterospasmus, muköse Colitis, mukomembranöse Colitis oder irritables Colonsyndrom.
Das Reizdarmsyndrom äußert sich durch schwer einzuordnende Beschwerden des Verdauungstrakts. Die Patienten klagen oft über krampfartige, als dumpf empfundene Bauchschmerzen, gleichzeitig leiden sie unter Völlegefühl und Blähungen. Der Stuhlgang kann im Sinne einer Obstipation oder Diarrhoe verändert sein. Ein RDS kann spontan rückläufig sein, verläuft aber in den meisten Fällen chronisch.
Es gibt einige Mythen und Theorien rund um das Thema Reizdarm. Auf viele von ihnen gehen die Autoren in der Leitlinie ein. Ein oft diskutiertes Thema ist die Rolle des Mikrobioms – auch in der die Veröffentlichung begleitenden Pressekonferenz. Prof. Thomas Frieling, Chefarzt am Helios Klinikum in Krefeld, erklärt dort: „Wir haben noch große Wissenslücken in diesem Bereich. Man liest immer: Das menschliche Mikrobiom hat eine Masse von 1–2 Kilogramm. Da weiß man jetzt, das stimmt nicht, es sind eher 200–300 Gramm. Oder der Mythos, dass die Anzahl der Bakterien im Körper die Zahl unserer Zellen um das Zehnfache übersteigen würde – auch das ist nicht richtig. Da besteht eher eine 1:1-Relation.“ Das solle aber den Einfluss des Mikrobioms nicht schmälern, so Frieling. Es zeige lediglich, dass viele Dinge in diesem Bereich eben noch nicht ganz klar seien.
Eine Schwierigkeit in der Forschung zum Mikrobiom bestehe darin, dass die mukosaassoziierten Mikroben bei der Diagnostik oftmals nicht vollständig erfasst werden könnten und deshalb den Wissenschaftlern noch weitestgehend unbekannt seien – und das, obwohl ausgerechnet sie über die Schleimhaut wohl am meisten mit dem Darm interagieren. Was ein Reizdarm mit dem Darmmikrobiom zu tun hat? Laut Frieling spielt es eine große Rolle: „Die Diversität der Bakterien ist bei einem RDS reduziert, aber es ist bisher nicht gelungen, bestimmte Bakterien zu identifizieren, die mit der Erkrankung in Zusammenhang stehen könnten.“
In der Leitlinie schreiben die Experten, dass eine wiederholte Anwendung von Breitspektrumantibiotika möglicherweise die Entstehung eines RDS begünstigen kann. Versuche man aber, ein RDS über das Mikrobiom zu behandeln, laufe das momentan eher nach dem ‚Trial and Error‘-Prinzip ab. Trotzdem empfehlen sie bestimmte probiotische Präparate, die sich auf die einzelnen Symptome beziehen. „Man kann aber nicht ein bestimmtes Probiotikum favorisieren und muss hier ausprobieren“, so Frieling auf der Konferenz.
Ein weiteres vieldiskutiertes Feld stellt die Stuhltransplantation (Mikrobiota-Transfer) dar. Diese ist bisher nur bei Problemen mit C. difficile etabliert. Doch auch hier erwarten die Fachleute in den nächsten Jahren noch viele Erkenntnisse, die dann zu spezifischen therapeutischen Ansätzen führen könnten.
Zu bakteriologischen Stuhluntersuchungen hat Frieling aber eine eindeutige Meinung: „Das ist Voodoo-Medizin.“ Diese sogenannten Stuhl-Ökogramme hätten keine klinische Bedeutung. Ein grundlegendes Problem seien in der Praxis die langen Transportzeiten, wodurch sich die Zusammensetzung der Mikroben komplett verändere. Das, was also im Labor ankomme, sei nicht repräsentativ für das, was im Darm zu finden sei. Das Geld sollten sich Patienten lieber sparen.
Eine diätische Therapie bzw. eine Ernährungsberatung sollte für Frieling am Anfang einer RDS-Behandlung stehen. Sie sei preiswert, sofort und ohne Medikamente umsetzbar. „Eine ausgewogene Ernährung ist die beste diätetische Therapie.“ Es gebe zwar keine spezifische Diät, die man beim RDS empfehlen könne, man solle aber auch hier auf eine ausgewogene, ballaststoffreiche Ernährung achten. Auch habe ein gesunder Lebensstil generell einen positiven Effekt auf die Darmbeschwerden. „Etwa 70 Prozent der Reizdarm-Patienten haben tatsächlich zusätzlich Nahrungsunverträglichkeiten.“
Auch bei anderen chronisch entzündlichen Darmerkrankungen kann die Ernährung eine große Rolle spielen. Die Symptome überschneiden sich oft und auch diätetische Maßnahmen seien ähnlich. So erklärt Dr. Irina Blumenstein, Oberärztin am Universitätsklinikum Frankfurt, dass Patienten mit Darmproblemen, sich oft aus Vorsicht nur noch sehr einseitig ernähren: ein Teufelskreis, der zu Mangelzuständen führen kann. Hier müsse der Arzt aufmerksam bleiben. Sie empfiehlt Patienten mit aktuellem Beschwerde-Schub außerdem einen weitestgehenden Verzicht auf Laktose. Diese schade an sich zwar meist nicht, viele Menschen hätten aber mit einer herabgesetzten Toleranz zu kämpfen, ohne es vielleicht zu wissen. Aktuell liefen Studien, die herausfinden wollen, wie eine antientzündliche Diät aussehen könnte – hier müssten aber zunächst Ergebnisse abgewartet werden.
Was aktuelle Studien zeigen: Es scheint eine Korrelation mit dem Verzehr von stark verarbeiteten Lebensmitteln zu geben. „Spannenderweise gibt es chronisch entzündliche Darmerkrankungen nur in Ländern, in denen es auch McDonalds gibt“, so Blumenstein.
Anteilig scheinen mehr Frauen als Männer vom RDS betroffen zu sein. Zwischen 20 und 30 Jahren überwiegen bei den Geschlechtern die Frauen im Verhältnis 2:1. Im höheren Lebensalter gleicht sich dieses Verhältnis wieder an. Generell kann das RDS aber in allen Altersklassen vorkommen. Die Gründe, die in der Leitlinie für den Geschlechterunterschied genannt werden: Erhöhte Östrogenspiegel sind mit reduzierter Darmmotilität assoziiert und Östrogenrezeptoren können zu einer Schmerzüberempfindlichkeit beitragen.
Beim RDS besteht eine hohe Komorbidität mit Erkrankungen wie der Funktionellen Dyspepsie, dem Chronic Fatigue Syndrom oder dem Fibromyalgie-Syndrom. RDS ist außerdem gehäuft mit somatoformen und psychischen Störungen assoziiert. Dabei kommt laut Leitlinie wohl der Panikstörung mit den für sie pathognomonischen episodischen vegetativen Beschwerden eine besondere Bedeutung zu. Sie trat in verschiedenen Studien bei rund 30 % (15–41 %) der untersuchten RDS-Patienten auf. Auch bei Patienten mit klinisch relevanten depressiven Erkrankungen und solchen mit generalisierter Angststörung tritt ein RDS gehäuft auf.
Forschungsergebnisse weisen auf eine genetische Prädisposition für das RDS hin, wobei Umweltfaktoren ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen scheinen. Das RDS scheint mit Genen unterschiedlicher Signaltransduktionswege und Funktionen/Systeme assoziiert zu sein. Dazu zählen die neuronale Funktion im peripheren und zentralen Nervensystem sowie die bidirektionale Kommunikation der Darm-Hirn-Achse, die epitheliale Barrierefunktion und das Immunsystem. Varianten der entsprechenden Gene scheinen außerdem komorbid auftretende Erkrankungen wie eine Angststörung, Depression oder Somatisierung zu begünstigen.
In ihrer Leitlinie gehen die Experten noch auf weitere Zusammenhänge der Erkrankung ein, unter anderem auf das diagnostische Vorgehen bei Patienten mit Verdacht auf ein RDS. Auch aktuelle Therapiemöglichkeiten und das RDS bei Kindern werden beleuchtet – bleibt abzuwarten, was sich in den kommenden Jahren an weiteren Optionen für Diagnose und Behandlung ergeben wird.
Die Leitlinie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: annie pm, Unsplash