Ich trete ans Krankenlager der kleinen Marina. Das Mädchen liegt auf der Couch und ist übersät mit juckenden, entzündeten Pusteln. Selbst das Schlucken fällt ihr schwer. Eine Impfung hätte das verhindern können.
Viele Hausbesuche machst du als Kinder- und Jugendarzt heute nicht mehr. Die meisten Eltern sind mobil, die meisten Kinder sind nicht so krank, dass sie nicht auch in die Praxis gebracht werden könnten. Die Zahl der Patienten am Tag ist so hoch, dass ich es mir nicht erlauben kann, in der Mittagspause – oder whenever – loszufahren. Ein zuhause beatmetes Kind hier, eine Hausgeburt dort (für die U2) oder ein abendlicher Schnelleinsatz wegen eines Fieberkrampfes.
Vor fünfzehn Jahren musste ich einmal wegen Windpocken ausrücken. Die Mutter schilderte am Telefon, dass ihre Tochter Marina so sehr erkrankt sei, dass sie kaum von der Couch im Wohnzimmer wegbekommen könne, um aufs Klo zu gehen – sie mache sich große Sorgen. Am Abend bin ich zu der Familie gefahren, in das Viertel mit den Siedlerhäusern aus der Jahrhundertwende. Ein Haus wie das andere – zwanzig, dreißig Stück in den vier Straßen, die nach Komponisten benannt sind.
Im Beethovenweg parkte ich, klingelte, die Mutter öffnete und brachte mich ins Wohnzimmer. Die Jalousien waren zugezogen, die Sommersonne musste draußen bleiben – es war ein sehr warmer Tag. Marina lag auf der Couch, unter einer großen Minnie-Mouse-Decke. Sie hat mich kaum erkannt und fieberte bereits den dritten Tag. Das Zimmer roch nach ätherischem Einschmierzeugs, nach Wärme, nach Kranksein.
Marinas Gesicht war übersät mit Pusteln – um die Augen, an der Nase, in den Augenbrauen und den Haaren, teils klein und rot, teils glasig gefüllt, teils groß, verschwielt und verkrustet. Ihr Mund stand offen, rot und entzündet, der Speichel stand ihr im Mund, sie konnte nicht gut schlucken.
Ich hob die Decke an und bat die Mutter, mir beim Ausziehen des Schlafanzuges zu helfen. Marina, sonst ein fröhliches Schulmädchen, die mir bei jedem Praxisbesuch verkündete, sie wolle auch mal Frau Doktor werden, konnte uns nicht helfen, alles tat ihr weh. Jede Ecke ihrer Haut war mit Windpocken übersät, bis hinein in die Achseln, die Leisten, das Genital. Die Altvorderen hatten das „Sternenhimmel“ genannt, weil jede Pustel anders aussieht. Kein Trost für Marina.
Die Mutter hatte aufgegeben, die juckreizendlindernde Lotion aufzutupfen. Das tägliche Abwischen tat dem Kind zu sehr weh. Dann musste es eben ohne gehen. Ibuprofen, Gurgeln des Mundes, Trinken aus dem Strohhalm, Löffeln von Joghurt und Suppe.
Das Ganze hatte mit ein paar Pünktchen vor drei Tagen begonnen, und war dann explodiert. Der Juckreiz muss unerträglich gewesen sein. Zum Glück bekam Marina keine Lungen- oder Hirnhautentzündung, die Windpocken selbst waren zwar überall vorgedrungen, hatten sich aber nicht superinfiziert. Der damalige Tag war der Peak der Erkrankung, meist kommen nach den ersten vier bis fünf Tagen keine neuen Pocken hinzu.
Angesteckt hatte sich Marina bei ihrer besten Freundin – damals noch gang und gäbe. Wenn sie gerade in der Schule oder im Kindergarten rumgingen, waren mindestens vier oder fünf Windpockenfälle pro Woche keine Seltenheit in der Praxis.
Ich habe heute mittag einmal im Computer nachgeschaut: In den letzten drei Jahren habe ich keinen Fall von Windpocken mehr gesehen.
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