Die psychotherapeutische Versorgungssituation wird immer schlechter. Da kommen Apps fürs Handy doch gerade recht, oder? Was sie in der Behandlung von Depression leisten können – ein Überblick.
Die Corona-Pandemie und die aktuelle Weltlage stellen für viele Menschen eine psychische Zerreißprobe dar. Laut der NAKO Gesundheitsstudie stieg alleine im ersten Lockdown 2020 der Anteil der Menschen mit moderaten bis schweren depressiven Symptomen von 6,4 auf 8,8 Prozent an. Vor allem junge Frauen waren laut den Studienergebnissen betroffen. 2,4 Prozent Zuwachs klingt zwar erstmal wenig, rechnet man das aber auf die Einwohner Deutschlands um, sind das knapp 2 Millionen Menschen mehr als im Vorjahr. Parallel dazu haben sich laut einer Hochrechnung von Statista die Downloads von Gesundheitsapps um 30 Prozent erhöht.
Digitale Lösungen zur Therapie von psychischen Erkrankungen liegen im Trend. Gerade durch die Pandemie, in der ein Gang zum Arzt aus Angst vor einer Ansteckung möglichst vermieden wurde, sind sie für einige Patienten zum unverzichtbaren Alltagsbegleiter geworden. Das Smartphone ist immer dabei – rund um die Uhr verfügbar und besonders für jungen Menschen einer der wichtigsten Kommunikationsmittel. Apps, die versprechen die eigene psychische Gesundheit zu verbessern und sogar eine bestehende Depression zu behandeln, findet man inzwischen in großer Anzahl. Einige können sogar vom Arzt verschrieben werden. Doch was bringen solche Anwendungen? Können sie Betroffenen von psychischen Erkrankungen wirklich helfen?
Im Dezember 2019, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, trat in Deutschland das sogenannte Digitale-Versorgungs-Gesetz in Kraft. Dieses Gesetz bildet die Grundlage dafür, dass digitale Lösungen wie Apps oder Internetplattformen zur medizinischen Behandlung von Patienten eingesetzt werden dürfen. Um als digitale Gesundheitsanwendung, kurz DiGA, in ein zentrales Register des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte aufgenommen zu werden, müssen die Hersteller strenge Auflagen erfüllen. Denn nur wenn sie einen eindeutig positiven Versorgungseffekt, ihre Wirksamkeit und Sicherheit nachweisen, können sie vom Arzt verschrieben und von den Krankenkassen erstattet werden. Das unterscheidet DiGAs von anderen Gesundheits- oder Lifestyle-Apps auf dem freien Markt, die keiner Pflicht zur Nutzenprüfung oder zur Kontrolle von Qualität und Datenschutz unterliegen.
34 Anwendungen haben es inzwischen in das Register geschafft, davon setzen 14 ihren Fokus auf die Behandlung von psychischen Erkrankungen. Die Apps deprexis, novego und selfapy sind für die Behandlung von Depressionen zugelassen. Aber, wie genau wollen sie Betroffenen helfen?
Deprexis ist ein onlinebasiertes Selbsthilfeprogramm für Patienten ab 18 Jahren, die unter leichten bis schweren Depressionen leiden. Es wird in Ergänzung zu einer bereits laufenden Therapie angewendet und basiert auf der Technik der kognitiven Verhaltenstherapie. In 90 Tagen wird den Nutzern ein vertieftes Wissen über ihre Erkrankung vermittelt.
Novego ist ein Online-Programm ab 18 Jahren für leichte bis mittelgradige Depressionen, welches ebenfalls die Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie verwendet. Innerhalb von 12 Wochen lernen die Teilnehmer alles rund um das Thema Depression in Form von Texten, Videos, Audios und interaktiven Übungen. Man bearbeitet das Programm selbständig und hat die Möglichkeit bei Fragen einmal pro Woche einen Psychologen per Nachricht zu kontaktieren. Im Falle einer akuten Krise gibt es eine 24-Std-Notfallhotline.
Selfapy bietet erwachsenen Betroffenen mit mittelgradigen Depressionen einen 12-wöchigen Online-Kurs zur Selbstdurchführung, der genau wie die beiden anderen Apps auf der Technik der kognitiven Verhaltentherapie beruht. Der Kurs besteht aus 12 verschiedenen Lektionen, die sich mit Themen wie dem Umgang mit negativen Gedanken, der Erstellung einer positiven Tagesstruktur, Entspannungstechniken, Schlafproblemen, sowie Strategien zur Rückfallprävention beschäftigen. Die Inhalte werden mit Hilfe von Audio- und Videoclips, Texten und Übungen vermittelt. Ein Psychologe überwacht den Fortschritt des Kurses und steht bei Bedarf über eine Nachrichtenfunktion zur Verfügung.
Alle vorgestellten Anwendungen mussten im Vorfeld ihre Wirksamkeit beweisen, um in das Register des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte aufgenommen zu werden. Am Beispiel von deprexis heißt das: Eine aktuelle Metaanalyse aus zwölf randomisierten Studien mit insgesamt 2.901 Teilnehmern bestätigte signifikante und klinisch relevante Effekte auf depressive Symptome – sowohl bei Anwendung mit als auch ohne Begleitung durch einen Therapeuten (durchschnittliche Effektstärke 0,51). Selfapy führte eine randomisiert-kontrollierte Studie in Kooperation mit der Charié Berlin durch. Das Ergebnis: Depressive Symptome können bei Nutzung des Online-Kurses um etwa 40 Prozent reduziert werden. Novego zeigte ebenfalls ähnliche Ergebnisse, auch wenn die Zahl der Studienteilnehmer sehr gering war. Eine andere Studie der Firma wies sogar einen schwach positiven Einfluss bei depressiven Teilnehmern mit Schmerzsymptomatik nach.
Aber DiGAs müssen nicht nur ihren medizinischen Nutzen nachweisen, es gibt auch strenge Anforderungen an Sicherheit und Datenschutz. Schließlich arbeiten die Apps mit hochsensiblen Gesundheitsdaten, die nicht in falsche Hände gelangen dürfen. Um von den gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden zu können, müssen sich die digitalen Helfer als Medizinprodukt der Risikoklassen I und IIa nach MDR Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte zertifizieren. Hierzu gehört eine umfangreiche Sicherheits- und Risikoprüfung.
Den Nutzern dürfen durch die Verwendung von DiGAs keinerlei Gesundheitsrisiken entstehen. Die gesammelten Daten dürfen nicht zu Werbezwecken an Dritte gegeben werden und auch die Anwendungen selbst müssen werbefrei sein. Das unterscheidet eine ‚App auf Rezept‘ von einer freien Health-App aus dem Apple- oder Google-Store. Anbieter von DiGAs dürfen zudem die erhobenen Daten nach Beendigung der Nutzung nicht weiter speichern.
Laut der Datenschutzbeauftragten Kathrin Strauß sollten sich DiGA-Nutzer jedoch bewusst sein, dass eingegebene Daten womöglich an die eigene Krankenkasse weitergegeben werden könnten und besonders auch ein Augenmerk auf den Speicherort der eigenen sensiblen Gesundheitsdaten richten. Strauß warnt: Der Standort der Datenverarbeitung könnte im außereuropäischen Ausland liegen, an dem es möglicherweise andere Datenschutzabkommen gibt.
Die Vorteile von digitalen Gesundheitsanwendungen liegen auf der Hand. Betroffene können evidenzbasiert früher behandelt werden, besonders in ländlichen und unterversorgten Gebieten, in denen schnelle Hilfe wichtig ist. Ebenso werden Menschen angesprochen, die bislang nicht vom Versorgungssystem erreicht wurden. Ärzte können ihren Patienten Anwendungen zur Nachsorge oder therapiebegleitend zur inhaltlichen Vertiefung verschreiben. Nora Blum und Farina Schurzfeld, Gründerinnen von selfapy betonen auf der Bits and Pretzels HealthTech Konferenz, die Ende Juni in München stattfand, einen weiteren wichtigen Aspekt: Digitale Gesundheitsapps ermöglichen Patienten eine Überbrückung der teils monatelangen Wartezeit auf einen Therapieplatz.
Eine App aufs Handy zu laden ist in ein paar Minuten erledigt und bietet einen niedrigschwelligen, ortsunabhängigen und schnellen Zugang zu therapeutischer Hilfe. Sie erleichtert den Einstieg in eine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung und die gewährleistete Anonymität kann bei Betroffenen die Sorge vor Stigmatisierung und Schamgefühle reduzieren.
Wichtig ist aber auch die Grenzen der digitalen Anwendungen zu kennen. Die Nutzung von DiGAs erfordert eine hohe Selbststeuerung und setzt digitale Kompetenz und Offenheit voraus. Junge Menschen, die sowieso ständig am Handy hängen, profitieren also wahrscheinlich eher davon als ältere Menschen, die weniger technikaffin sind. Man sollte auch folgenden Effekt bedenken: Wie oft passiert es, dass man sich Anwendungen herunterlädt – wie etwa Apps zur Erlernung einer neuen Sprache – und diese nach ein paar Tagen enthusiastischer Nutzung dann immer weniger gebraucht, bis sie schließlich als Appleiche ein einsames Dasein auf dem Smartphonescreen fristen.
Dasselbe könnte mit DiGAs passieren – die Abbruchquote ist hoch. In der Studie von selfapy beendete ein Viertel der Teilnehmer den Online-Kurs nicht. Bei Novego waren es sogar knapp über 50 Prozent, die im Verlauf die Teilnahme am Depressionsprogramm abbrachen. Einer anonymen App sagt man leichter ab als seinem Therapeuten.
Ein weiteres Risiko: Bringt die Gesundheitsanwendung nicht den erwünschten Effekt, könnte die gesundheitsbezogene Selbstwirksamkeitserwartung reduziert werden – sprich die Betroffenen könnten eine negative Einstellung gegenüber psychologischen Interventionen entwickeln und es könnte gegebenenfalls zur Symptomverschlechterung kommen.
Außerdem sind die Anwendungen nicht für alle Diagnosen zugelassen. Schwere Depressionen, die mit Merkmalen wie psychotischem Erleben oder Suizidalität einhergehen, sind klar von der digitalen Behandlung ausgeschlossen. In den Studien zur Wirksamkeit wird außerdem bei allen vorgestellten DiGAs lediglich eine Reduktion von depressiven Symptomen nachgewiesen. Eine Therapie, die dazu führt, dass die Depression effektiv behandelt wird, sodass auch die Symptome weitestgehend verschwinden, können sie nicht garantieren.
Und nicht zuletzt: Digitale Gesundheitsanwendungen können eine Face-to-Face-Psychotherapie nicht ersetzen. So wertvoll die digitale Unterstützung bei psychischen Erkrankungen ist, die meisten Patienten profitieren hauptsächlich von der persönlichen Beziehung, die sie zu ihrem Arzt oder Therapeuten aufbauen. Studien zeigen, dass die Wirksamkeit einer Psychotherapie weniger von dem gewählten Verfahren, als vom Behandler selbst abhängig ist. Die Beziehung zum Therapeuten ist eine wichtige Komponente – und gerade die kann eine App nur schwer ersetzen. Zwar können in den oben vorgestellten DiGAs echte Psychologen per Chatfunktion oder im Notfall auch per Telefon kontaktiert werden. Diese antworten jedoch zeitversetzt und sind nur begrenzt erreichbar. Ein persönliches Vieraugengespräch, ein tröstender Händedruck oder das Reichen des Taschentuchs kann nicht stattfinden.
Der Einsatz von digitalen Technologien in der Therapie von psychischen Erkrankungen wie etwa bei Depressionen liegt im Trend. Sie bieten viele Vorteile, haben aber auch klare Grenzen und befinden sich derzeit noch in der Entwicklung. Künstliche Intelligenz und Virtual Reality könnten in Zukunft weitere vielversprechende Möglichkeiten eröffnen, die Ärzte und Therapeuten bei der Versorgung psychisch erkrankter Menschen vermutlich nicht ersetzen, aber doch unterstützen werden.
Bildquelle: Joel Overbeck, Unsplash