BEST OF 2022 | „Der Ballengang ist der natürliche Gang des Menschen“ – stimmt der Mythos? Selbst Ärzte sind verunsichert. Wir haben für euch nachgefragt und gehen dem beliebten Barfußschuh ans Leder.
Um den richtigen Gang ranken sich viele Mythen. Glaubt man alles, was man zum natürlichen Gang auf unterschiedlichen Plattformen liest, müsste man sich wohl zeitgleich drei verschiedene Gangarten in fünf unterschiedlichen Schuhtypen aneignen. Nur dann würde man im „richtigen“ Gang, der die Muskulatur, den Bewegungsapparat und natürlich auch die Fußgesundheit am wenigsten schädigt – im besten Fall sogar unterstützt – gehen.
Besonders bei der kindlichen Fußentwicklung sind viele hartnäckige Mythen im Umlauf. Diese machen es bis ins Erwachsenenalter schwer zu wissen, was denn schlussendlich einen gesunden Gang und dementsprechend gesunde Schuhe ausmacht. Auf Schuhhersteller-Seiten werden viele Informationen, Tipps und Tricks zum richtigen Fußwachstum gegeben – oft ohne ausreichende Quellenangabe und voneinander abgeschrieben. Klar bleiben da viele offene Fragen. Die Studienlage zum richtigen Schuh und den Vor- und Nachteilen von Barfußschuhen ist ebenfalls divers (wir berichteten).
Eine der am häufigsten zu lesenden Behauptungen, vor allem bei Barfußschuh-Herstellern, ist: „Der Ballengang ist der natürliche Gang!“ – schließlich würden ja bereits die Kinder so gehen, also kann das nur die beste und natürliche Gangart sein. Ebenfalls werden Barfußschuhe oft mit dem Ballengang assoziiert. Man müsste diesen im Erwachsenenalter wieder lernen, um sich in den gesunden Schuhen richtig fortzubewegen, so die Tipps vieler Hersteller. Das ist allerdings nicht ganz richtig.
Ja, Kinder gehen anders als Erwachsene. Aber nicht, weil sie noch den vermeintlich natürlichen Gang beherrschen, der sich im Laufe der Zeit mit dem Nutzen von Schuhen zum Fersengang entwickelt, sondern weil die kindliche Fußanatomie noch nicht vollkommen ausgereift ist. „Kinder patschen – sie gehen nicht, wie oft behauptet, vorne am Ballen, sondern setzen den Fuß äußerst flach auf“, erklärt Prof. Markus Walther, Chefarzt der Abteilung für Fuß- und Sprunggelenkchirurgie sowie ärztlicher Direktor der Schön-Klinik München-Harlaching und des FIFA Medical Centers München, im Gespräch mit DocCheck News. „Naturvölker tippeln auch nicht auf den Zehen, sie setzen den Fuß allerdings deutlich flacher auf dem Mittelfuß auf. Das beansprucht die Fußstrukturen weniger.“
Grundsätzlich entwickelt sich die Gangart mit dem Alter von einem vorfußlastigen Gang hin zum klassischen Fersengang. Die Fußwölbung entwickelt sich erst bei regelmäßiger Belastung durchs Gehen. Daher werden auch vermeintliche kindliche Fußfehlstellungen oft durch einfaches Wachstum ausgeglichen.
Diese Entwicklung macht aber nicht nur anatomisch Sinn, denn „ein natürlicher Abrollvorgang ist nur beim Fersengang möglich“, so Dr. Jürgen Kosel, Facharzt für Orthopädie und Autor von Orthopädie verstehen! Wissen für Patienten und Therapeuten, im Gespräch mit DocCheck News. „In der Entwicklung vom Säugling, der nur auf dem Rücken liegt, bis zum Erwachsenen, der aufrecht geht, macht jedes Kleinkind eine Phase durch, in der es überwiegend seine Fußballen belastet. Am Ende dieser Entwicklung steht aber nicht der Ballengang, sondern der Fersengang. Erst ein vollständiger Abrollvorgang von den Fersen bis zum Großzehenabdruck ist medizinisch und biomechanisch korrekt und für eine gesunde Körperhaltung notwendig.“
Sowohl der Ballengang, bei dem die Bauchmuskeln stärker belastet werden, als auch der Fersengang, der die Rückenmuskulatur stärker beansprucht, können negative Auswirkungen – nicht nur auf die Fußgesundheit, sondern auf den gesamten Bewegungsapparat – haben. „In beiden Fällen kann es zu einem muskulären Ungleichgewicht, einer myostatischen Dysbalance, kommen, die zu einer chronischen Fehlhaltung führt und Rückenschmerzen verursachen kann“, so Dr. Kosel. Dabei handelt es sich um Haltungsschäden, die jeden betreffen können. Gefährlich wird es, wenn man versucht, eine für den fertig ausgeprägten Fuß unnatürliche Gangart zwanghaft zu adaptieren, in dem Glauben, man würde auf eine natürlichere Variante umsteigen. Das sieht auch Kosel so:
„Wer sich einen durchgehenden Ballengang angewöhnt, dem droht eine Verkürzung der Wadenmuskulatur, was im weiteren Verlauf zu einem Haltungsproblem werden kann. Am Fersenbein wird die erhöhte Spannung der verkürzten Wadenmuskeln wie an einer Umlenkrolle auf die Plantarfaszie der Fußsohle übertragen, so dass hier nicht selten Schmerzen im Sinne einer Plantarfasziitis auftreten.“
Eine Gangumstellung muss also wohl überlegt sein und gesamtheitlich betrachtet werden. Das Gehen hat nicht nur Auswirkungen auf die Fußgesundheit, sondern den gesamten Bewegungsapparat. Bereits bestehende Haltungsschäden müssen unbedingt beachtet werden. „Eine Gangumstellung ist immer in der Wechselbeziehung zur Körperhaltung zu betrachten. Wenn das nicht beachtet wird, können besonders am Rücken Schmerzen ausgelöst werden“, so Kosel. Außerdem blieben viele orthopädische Befunde bei der Gangumstellung unbeachtet. Hierzu zählen vor allem Fehlhaltungen an Becken und Wirbelsäule, die zu funktionalen Beckenschiefständen und Beckentorsionen führen können.
Prof. Walther ergänzt: „Besonders bei einer Gangumstellung im Barfußschuh können die Träger Frakturen entwickeln, wenn sie Belastungen ausüben, die im normalen Schuh leicht machbar sind.“
Es gibt also ein richtiges und ein falsches Gehen? So einfach ist es dann leider doch nicht. Besonders, wenn der Faktor Barfußschuh dazukommt. Denn das eben nicht natürliche Gehen am Ballen muss erst wieder mühsam erlernt werden. „Barfußschuhe erzwingen eine andere Gangart, jedoch nicht einen reinen Ballengang, wie oft behauptet. Im Barfußschuh wird die Belastung von der Ferse nach vorne geschoben, sodass eine gleichmäßige Verlagerung des Gewichts entsteht – keine vollkommene Verlagerung auf den Zehenbereich“, erklärt Walther.
Wie trägt man denn jetzt einen Barfußschuh? Die Antwort darauf ist leider keine allgemein gültige, denn das Problem startet bereits bei der Definition des Wortes Barfußschuh – es gibt nämlich keine geschützte Begriffsbezeichnung. So kann sich jeder Hersteller hauseigene Richtlinien schaffen und sich an diese – mehr oder weniger – halten. Alle scheinen sich jedoch darauf geeinigt zu haben, dass Barfußschuhe sich durch eine möglichst flache Sohle, ein ungeformtes oder gar nicht vorhandenes Fußbett, einen breiten Vorfußbereich sowie geringes Gewicht und eine minimale Absatzsprengung auszeichnen. Grenzwerte gibt es bisher aber nicht.
Jedenfalls geht man in Barfußschuhen anders. Man tritt sanfter auf und sollte nicht so stark mit der Ferse aufsetzen, schließlich kann die dünne Sohle den harten Stoß nicht wie gewohnt abfedern. Dieses Gehen will gelernt sein. Es unterschiedet sich vom Gehen in herkömmlichen Schuhen – aber auch vom Gehen komplett ohne Schuhe. „Anfangs ist das Risiko hoch, den Fuß durch die erhöhte Belastung der Waden- und Fußmuskulatur zu überfordern. Je älter man ist, desto länger brauchen die Muskeln, um sich an den neuen Bewegungsablauf zu gewöhnen. Deswegen sollte man den Barfußschuh unbedingt als Trainingsgerät betrachten“, betont Walther. „Man muss sich langsam rantasten und die Muskeln erst trainieren. Wenn man um diese Problematik weiß und direkt handelt, sobald man merkt, dass man wie in herkömmlichen Schuhen zu stark mit der Ferse auftritt, entstehen am Fuß auch keine Schäden.“
Der nicht geschützte Begriff „Barfußschuh“ bringt aber auch andere Probleme mit sich: Was muss ein Barfußschuh leisten? Wie soll er den Fuß unterstützen – oder soll er das gar nicht? Was macht einen Barfußschuh aus? Die dünne Sohle, der Zehenfreiraum, die Materialien? Wenn das jeder Hersteller für sich selbst definiert, ist eine allgemeine Empfehlung zu einer gewissen Gangart hinfällig, dann muss man sich jedes Exemplar separat vorknöpfen.
„Idealerweise erlauben auch Barfußschuhe einen normalen Abrollvorgang von der Ferse bis zum Großzehenabdruck“, erläutert Kosel. Für ihn zeichnen sich Barfußschuhe vor allem durch ihren Platz im Zehenbereich aus und dadurch, dass sie die Füße keinesfalls einengen. Die Sohle sei aber bei vielen Herstellern zu dünn und könne keine Stöße abfedern. Der Fersenauftritt sei dadurch zu hart. Das könne zu degenerativen Veränderungen an Knie- und Hüftgelenken führen. „Eine dämpfende Sohle entlastet die Gelenke durch weniger Druck auf den Gelenkknorpeln. Das berücksichtigen die Hersteller von Barfußschuhen noch nicht genügend. Wenn das gewährleistet wird, gibt es aus orthopädischer Sicht keine Einwände gegen die Benutzung von Barfußschuhen“, konkludiert er.
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