Einige europäische Länder vermeldeten im Frühjahr eine ungewöhnliche Häufung von schweren Hepatitiden bei Kindern. Klärt sich jetzt das Mysterium?
In diesem Frühjahr registrierten europäische Gesundheitsbehörden eine ungewöhnliche Häufung von akuter Hepatitis unklarer Ätiologie bei Kindern. Bis Ende Juni stieg die Zahl auf 473, die meisten Fälle (268) traten im Vereinigten Königreich auf, heißt es in einer Mitteilung des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC). Was hat es damit auf sich?
„Vereinzelte Fälle von schweren Hepatitiden mit unklarer Ursache bei Kindern gibt es in Europa natürlich immer“, sagt Prof. Tobias Tenenbaum, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Sana Klinikum Lichtenberg. „Aber der Peak in Großbritannien (UK) ist schon sehr außergewöhnlich. Bislang ist als Ursache eine Infektionserkrankung wahrscheinlich, aber das Infektionsgeschehen in seiner Komplexität noch nicht vollständig verstanden.“ Tenenbaum ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie.
Trotz erhöhter Wachsamkeit ist in Deutschland bisher kein Fall bekannt. Das liege aber eher nicht daran, dass man hierzulande weniger genau hinschaut oder im Vereinigten Königreich um so mehr, meint Prof. Tenenbaum. „Manchmal entwickeln sich solche Phänomene lokalisiert; möglicherweise grenzt auch die Insellage das Infektionsgeschehen ein.“
Mögliche Ursachen des Phänomens gibt es mehrere. Vor allem zwei Hypothesen wurden bisher diskutiert: „Die Infektionen in UK sind recht deutlich mit dem Adenovirus Serotyp F41 assoziiert“, so Tenenbaum. Adenoviren verursachen häufig Atemwegsinfektionen. Die Typen F40 und F41 können hingegen Infektionen des Gastrointestinaltrakts auslösen – sind aber meist ebenfalls harmlos.
Dass Adenoviren jetzt Probleme machen, könnte eine indirekte Folge der Corona-Pandemie sein. Ob als Folge der Pandemie oder als Folge der Eindämmungsmaßnahmen – Kinder hatten in den letzten zwei Jahren zu vielen Keimen, die sonst breit zirkulieren, weniger Kontakt als in „normalen“ Jahren. Das wird jetzt nachgeholt, und möglicherweise sind die Verläufe deswegen im Schnitt schwerer, weil der Erstkontakt mit den Erregern später stattfindet.
Diese Hypothese hat einige Probleme – unter anderem die Tatsache, dass nicht bei allen erkrankten Kindern Adenoviren nachweisbar waren, insbesondere nicht in großen Mengen in der Leber.
Schwierig ist auch die zweite, in den sozialen Medien sehr beliebte Hypothese, die SARS-CoV-2 selbst ins Zentrum stellt und es entweder als unmittelbaren Auslöser der schweren Hepatitiden bei den Kindern oder als eine Art immunologischen Wegbereiter ausmacht.
„Es gibt die Theorie, dass das Zusammenspiel dieses speziellen Adenovirus-Serotyps mit der SARS-CoV-2-Variante Omikron eine Rolle spielt, weil die Häufung zu Beginn der Omikron-Welle in UK losging“, erklärt Prof. Tenenbaum. Dabei könne es zu einer Superantigen-vermittelten Immunaktivierung kommen, die dann zu den schweren Hepatitiden führt – ähnlich wie bei PIMS, der entzündlichen Multisystemerkrankung bei Kindern, die nach Exposition gegenüber SARS-CoV-2 auftreten kann. Belegt sei das aber nicht.
In einem aktuellen Preprint verfolgen Wissenschaftler um Thomson et al. jetzt eine weitere, eventuell die bisher heißeste, Spur. Diese beginnt bei dem Adeno-assoziierten Virus 2 (AAV2). Normalerweise löst dieses sogenannte Helfervirus keine Erkrankungen aus, da es sich nur in Anwesenheit von anderen Viren, wie Adeno- oder Herpesviren, replizieren kann.
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Wie die Forscher nun berichten, konnten sie große Mengen AAV2 in Blut- und Leberproben von neun Kindern mit akuter Hepatitis unklarer Ätiologie nachweisen, entweder zusammen mit einem Adenovirus oder mit einem Herpesvirus. In den Proben der Kontrollgruppen war AAV2 hingegen nicht vorhanden. Zu der Kontrollgruppe zählten sowohl gleichaltrige gesunde Kinder als auch solche, die mit Adenoviren infiziert waren, aber eine normale Leberfunktion aufwiesen und Kinder, die an einer Hepatitis anderer Ätiologie litten. Eine zweite Studie zu dem Thema scheint diese Befunde zu bestätigen; auch wiesen die Forscher AAV2 in Kombination mit Adeno- oder Herpesviren bei erkrankten Kindern nach, nicht aber in den Kontrollgruppen.
Darüber hinaus fanden Thomson et al. in ihrer Studie bei acht der neun Kinder eine genetische Variante, die nur bei 15 % der Bevölkerung vorkommt (Allel HLA-DRB1*04:01). Laut der Forscher könnte dies möglicherweise auf eine genetische Anfälligkeit für eine schwere Hepatitis als Reaktion auf die Doppelinfektionen hinweisen. Die Autoren der Studie stellen die Hypothese auf, dass die verringerte Exposition gegenüber AAV2 und Adeno-/Herpesviren während der Corona-Pandemie zu einer erhöhten Co-Zirkulation dieser Viren beigetragen haben könnte, die wiederum vor dem Hintergrund einer genetischen Suszeptibilität zu einer Zunahme dieser seltenen Erkrankung geführt hat.
Bewiesen ist diese Hypothese zwar noch nicht, dafür müssen nun weitere Studien mit größeren Kollektiven folgen. Die Erklärung mit der Doppelinfektion scheint bisher aber am plausibelsten. Vor allem hilft sie zu erklären, warum die Erkrankungen lokalisiert auftreten. Denn wäre „nur“ das Adenovirus mit oder ohne SARS-CoV-2 der Übeltäter, dann stellt sich die Frage, warum die Hepatitiden nicht nahezu überall auftreten, da sowohl SARS-CoV-2 als auch Adenoviren weit verbreitet sind. Die Doppelinfektion löst dieses Problem, weil sie erfordert, dass zwei unterschiedliche Viren zeitgleich verstärkt zirkulieren.
Bildquelle: Veit Hammer, unsplash.