Angesichts steigender Patientenzahlen entwickeln Pharmaunternehmen immer neue Wirkstoffe. Ihre Medikamente haben einen zentralen Schwachpunkt: Sie behandeln nur die Symptome, nicht aber die Ursache. Aktuelle Entwicklungen leiten einen Paradigmenwechsel ein.
Eine Volkskrankheit greift um sich: In den Vereinigten Staaten leiden schätzungsweise 28 Millionen Menschen an Typ 2-Diabetes – Tendenz steigend. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) erwarten, dass im Laufe ihres Lebens 40 Millionen aller bereits geborenen US-Amerikaner am Stoffwechselleiden erkranken. Deutschland hat ähnliche Probleme: Zwischen 1998 und 2012 erhöhte sich die Zahl an Diabetespatienten auf über sechs Millionen. Weitere 270.000 Neuerkrankungen kommen Jahr für Jahr hinzu. Dank moderner Behandlungskonzepte treten Folgeerkrankungen wie diabetische Retinopathien, Nephropathien und das diabetische Fußsyndrom zwar seltener auf. Schattenseiten lassen sich trotzdem nicht vermeiden.
Dazu ein paar Details: Patienten mit Typ 2-Diabetes benötigen aufgrund ihrer Insulinresistenz mehr oder minder große Mengen des Peptidhormons. Craig J. Currie, Cardiff, hält schwerwiegende Folgen dieser Therapie für möglich. Auf Basis von 13 Millionen Datensätzen identifizierte er 6.484 Patienten mit Typ 2-Diabetes. Bei ihnen stellte Currie Insulin, Morbidität und Mortalität in Relation. Nahm die Insulindosis um eine internationale Einheit pro Kilogramm Körpergewicht zu, ging auch die Sterblichkeit um 54 Prozent nach oben. Bei Krebserkrankungen waren es plus 35 Prozent, und bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen plus 37 Prozent. Currie kann die Kausalität nicht klar belegen, argumentiert jedoch mit bekannten Effekten insulinähnlicher Wachstumsfaktoren. Ein auswegloses Dilemma?
Nicht unbedingt – Victor Shengkan Jins Arbeiten könnten bei Typ 2-Diabetes zu einem Paradigmenwechsel führen. Laut Jin bewirken große Fettmengen in metabolisch sensitiven Organen wie Leberzellen oder Muskelgewebe langfristig eine Insulinresistenz. Um gegen Lipide vorzugehen, erzeugte der Forscher einen „Kurzschluss“ in der Atmungskette. Ohne externe Störung bauen Mitochondrien einen Protonengradienten auf, um Adenosintriphosphat (ATP) herzustellen. Chemische Entkoppler wie Dinitrophenol nehmen Protonen auf einer Seite auf und geben sie auf der anderen Seite wieder ab – der Gradient verringert sich. Dinitrophenol ist aufgrund seiner Toxizität nur leider ungeeignet. Genau hier kam Jins pharmakologische Expertise zum Tragen. Er screente alte, von der US Food and Drug Association (FDA) zugelassene Wirkstoffe. Niclosamid, ein Präparat gegen diverse Bandwürmer, erwies sich als Treffer. Höhere nanomolare Konzentrationen führten bei Mäusen zum Abbau des Fetts in Leberzellen sowie im Muskelgewebe. Ihre Insulinresistenz verschwand. Kurz darauf normalisierte sich auch der Blutzuckerspiegel. Mit einer baldigen Anwendung rechnet der Forscher jedoch nicht.
Es gibt aber noch weitere Strategien. Jetzt haben Wissenschaftler versucht, den Effekt bariatrischer OPs molekular nachzuempfinden. Erwünschte Folgen lassen sich nicht nur auf die Ernährungsumstellung oder die schlechtere Resorption zurückführen. Vielmehr werden drei Hormone verstärkt synthetisiert. Das Glukagon-ähnliche Peptid-1 (GLP-1) gilt unter anderem als molekularer Appetitzügler. Glucagon wiederum kurbelt die Freisetzung von Glukose an. Und das glukoseabhängige insulinotrope Peptid (GIP) hemmt die Magenmotorik. GIP führt auch zur Insulinfreisetzung. Jetzt haben Matthias Tschöp, München, und Richard DiMarchi, Indianapolis, einen Wirkstoff vorgestellt, der alle drei Effekte kombiniert. Das Molekül wirkt als Tri-Agonist an entsprechenden Rezeptoren. Im Tierversuch verringerten sich Appetit, Blutzuckerspiegel, Cholesterinwerte und Körperfett-Anteile. Mäuse verloren etwa 30 Prozent ihres Körpergewichts, und die Insulinsensitivität verbesserte sich. Dass Menschen vom neuen Molekül profitieren, ist zumindest theoretisch denkbar.
Bis entsprechende Therapien in der Praxis ankommen, werden Jahre vergehen. Grund genug, präventive Ansätze zu forcieren. Das beginnt schon bei der Ernährung. Andreas Pfeiffer, Nuthetal, hat Leberzellen in vitro mit den sekundären pflanzlichen Inhaltsstoffen Luteolin beziehungsweise Apigenin versetzt. Und siehe da – die Bildung von Glukose und von Fetten verringerte sich. Beide Moleküle aktivieren den Transkriptionsfaktor FOXO1, bekannt als intrazellulärer Vermittler im Insulin-Signalweg. Flavonreiche Nahrungsmittel könnten folglich unseren Stoffwechsel verbessern. Bleibt noch mehr körperliche Betätigung. Ältere Studien zeigen, dass Lebensstilinterventionen Diabetesrisiken langfristig minimieren. Um HbA1c-Werte nachhaltig zu senken, profitieren Patienten von Bewegung plus Umstellung ihrer Ernährung. Staatliche Abgaben auf Softdrinks oder fetthaltige Lebensmittel, wie von den Vereinten Nationen bereits Ende 2011 gefordert, gelten hier zu Lande als politisch nicht umsetzbar.