Ein Buch nach seinem Einband beurteilen – diesen Fehler machen wir Ärzte zu häufig. Das kann schnell zu fatalen Situationen führen. Warum ein scheinbar unnötiges EKG oft Leben rettet.
Ja, ich gebe es zu, auch ich neige dazu, bei Patienten eine schnelle erste Entscheidung zu treffen, in welche Richtung das Beschwerdebild geht (z. B. eher organisch vs. eher psychisch). Ich fürchte, das ist nur allzu menschlich. Auch, wenn ich mich immer bemühe, die jeweiligen individuellen Besonderheiten meiner Patienten zu sehen. Was also tun, damit man nicht aus Versehen etwas übersieht?
Wie schon in einem anderen Artikel erwähnt: Gute Routinen entwickeln. Das bedeutet, dass man zumindest den Großteil der empfohlenen Kontrollen durchzieht. Der Patient nimmt ein Medikament dauerhaft ein? Einmal jährlich mindestens eine Laboruntersuchung mit Blutbild, Leber- und Nierenwerten. Je nach Medikament auch mehr als das. Bei Antidepressiva gehört auch das jährliche EKG dazu. Das steht immer irgendwo im Kleingedruckten, wird aber gern übersehen. Das führt dazu, dass ich gefühlt doppelt so viel EKGs schreibe, wie viele Kollegen – oder eben auch mehr Labor abnehme.
Gerade bei den EKGs denke ich selbst oft „muss das jetzt echt sein“? Es kostet Zeit, blockiert einen Raum und wird dabei noch nicht einmal entlohnt. Jetzt hatte ich aber in kurzer Abfolge drei Fälle, bei denen ich wirklich froh war, mich an die eherne Regel „play it by the book“ gehalten zu haben (und ein EKG gemacht habe).
Eine Mittfünfzigerin kommt Montagmorgen zu mir, sie habe „am Samstag schon wieder einen Zusammenbruch gehabt“. Das sei vor ein paar Monaten schon mal so gewesen, damals sogar mit Krankenhausaufenthalt. Es sei aber nichts dabei rausgekommen. Im Gespräch fing sie an zu weinen, erzählte von ihren Sorgen bezüglich der Ukrainekrise. Es sah alles nach einem vor allem emotionalen Thema aus. Keine Belastungsluftnot, keine Brustschmerzen oder thorakales Engegefühl. Ich weiß gar nicht, ob mein Wunsch nach einem EKG aus den Beschwerden alleine kam, oder weil ich, falls ein Antidepressivum in nächster Zeit notwendig werden sollte, schon mal ein EKG haben wollte.
Kurz danach ging es mit einem Krankenwagen mit einem subakuten Herzinfarkt ins Krankenhaus. Bei näherer Befragung stellte sich dann auch raus, dass der Zusammenbruch nicht, wie ich es ursprünglich verstanden hatte, rein emotional gewesen war, sondern dass sie wirklich umgefallen war – mit einem Blutdruck von knapp 100/60 mmHg. Ja, das hätte ich wahrscheinlich noch genauer erfragen sollen. Andererseits tut man sich schon schwer, wenn eine weinende Patientin von ihren Sorgen erzählt, zu fragen, wie denn der Blutdruck am Samstag war, weil es auf den ersten Blick ja völlig deplatziert und unempathisch wirkt.
Der zweite Patient kämpft seit über einem Jahr mit Depression. Begonnen hatte alles mit einer Covid-Infektion, im Verlauf dann die Diagnose Long Covid, unerwarteter Tod des Vaters, Erstdiagnose einer Krebserkrankung der Mutter. Initial hatten wir besprochen, es erst einmal mit einer reinen Gesprächstherapie zu versuchen, aber das schien nicht zu reichen. Auch, weil einfach die Abstände zwischen den Sitzungen zu lang waren, aber das ist ja momentan aus Überlastungsgründen überall so. Auch eine Long-Covid-Reha hatte nicht wirklich zu einer Verbesserung geführt.
Deswegen hatten wir uns zuletzt auf den Versuch mit einer medikamentösen Therapie geeinigt. Er war beim Neurologen/Psychiater gewesen und nahm jetzt seit zwei Wochen Citalopram ein. An diesem Morgen aber saß er bei mir und erzählte, dass er seit einigen Tagen „Herzrasen und Schweißausbrüche, regelrechte Panik“ habe. Das habe er auch dem Neurologen gesagt, dieser habe gesagt, dass er bei Panikattacken das Medikament wechseln und ihm ein neues Rezept mitgegeben würde. Der Patient selbst wirkte aber ernsthaft beunruhigt. Nun ja – auch das klang auf den ersten Blick nicht wirklich außergewöhnlich. Dass jemand mit Depression auch mal eine Panikattacke hat, konnte ich durchaus nachvollziehen.
Aber ich betreue diesen Patienten jetzt seit Jahren und er wirkte ernsthaft beunruhigt, ohne dass er bei mir jetzt Anzeichen einer Panikattacke zeigte. Also auch da das EKG: Zwar Sinusrhythmus, aber Pausen bis knapp 3 Sekunden im Ruhe-EKG. Ich war völlig überrascht, denn damit hatte ich definitiv nicht gerechnet. Um es kurz zu machen: Nach Absetzen des Citaloprams verschwanden die Symptome vollständig. Ich habe es der Arzneimittelkommission gemeldet und wir haben uns jetzt darauf geeinigt, dass es doch irgendwie mit Psychotherapie laufen muss. Denn nach dieser Episode möchte ich das nicht noch einmal riskieren – und der Kardiologe hat auch sehr vehement davon abgeraten.
Der letzte Fall liegt erst einige Tage zurück: Eine junge Frau (Mitte 20), sehr schlank, kam in die Sprechstunde, weil sie in letzter Zeit mehrfach Schwindelanfälle hatte. Sie beschrieb klassische orthostatische Beschwerden – kein Drehschwindel, eher „so ein bisschen schummrig“. Aber, und das machte mich dann stutzig, die Beschwerden träten auch bei Belastung (Joggen) auf. Also auch da ein EKG angeordnet – Herzfrequenz 37/min (!). Ich habe sie dann schnell in die nächste Kardiologie verlegt und bin jetzt mal gespannt, was dabei rauskommt. Es KANN natürlich sein, dass sie nur extrem gut trainiert ist (joggt wohl 40km pro Woche), aber in Kombination mit dem Beschwerden und dem Blutdruck von knapp 100/60mmHg, werde ich da kein Risiko eingehen.
Mein Fazit aus diesen Patienten? Viele Empfehlungen zur Diagnostik oder zu Kontrollen wirken oft wie aus dem Elfenbeinturm: zu umfangreich und nicht wirklich praxisorientiert. Man hat das Gefühl, viel Lärm um nichts zu machen. Die Sprechstunde ist eh chronisch überfüllt. Und bei den anderen ca. 300 EKGs des letzten halben Jahres ist ja auch nichts rausgekommen. Das verleitet zum Gedanken, dass das eh alles nur unnötiger Aufwand ist. Aber: Diese Empfehlungen haben einen Grund. Sie sind eben nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern kommen von Kollegen, die vielleicht auch mal Erfahrungen wie die oben beschriebenen Patienten gemacht haben. Und gerade das EKG ist keine invasive Maßnahme, gut verfügbar und einfach durchzuführen.
Deswegen kann ich nur immer wieder dafür plädieren: Entwickelt gute Routinen und zieht diese durch – auch, wenn meistens nichts dabei rauskommt. Denn manchmal retten genau diese guten Routinen Leben.
Bildquelle: Blake Weyland, unsplash