Die Anorexia nervosa ist nicht zu unterschätzen – doch noch immer tun Hausärzte, Pädiater und Apotheker genau das. Warum das gefährlich ist und wie die komplizierte Therapie besser gelingt.
Trotz der in den vergangenen Jahren erreichten psychotherapeutischen, psychiatrischen und psychopharmakologischen Behandlungsfortschritte bleiben die Sterblichkeitsraten von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sehr hoch. Patienten, die wegen Anorexia nervosa stationär behandelt wurden, haben immer noch ein mehr als fünfmal erhöhtes Sterblichkeitsrisiko. Die Sterblichkeitsrate bei denjenigen, die ambulant behandelt werden, sind niedriger, aber trotzdem etwa doppelt so hoch wie die der Allgemeinbevölkerung. Schätzungen zufolge gehen weltweit jährlich über 3,3 Millionen gesunde Lebensjahre aufgrund von Essstörungen verloren.
Die Veröffentlichung des DSM-5 führte zu Veränderungen bei den diagnostischen Kriterien für Anorexia nervosa. Amenorrhoe bzw. die hypothalamische-endokrine Störung wurde beispielsweise entfernt – denn sie kann bei Männern oder Frauen vor der Menarche nicht beurteilt werden.
In der Praxis erleben wir neben den bekannten Merkmalen – vor allem bei jüngeren Patienten – eine verdeckte Symptommanifestation. Die Beschwerden können für längere Zeit ausgeblendet werden, vor allem, wenn die jungen Patienten konstitutionell „schon immer dünn“ waren. Bei jüngeren Patienten, bei denen eine fehlende kognitive Differenzierung besteht, fällt laut Studien zunächst ein Gewichtsverlust durch Nahrungsverweigerung auf, initial ohne das Vorliegen der weiteren charakteristischen Diagnosekriterien.
Die Störung gilt – aufgrund der erhöhten Mortalität und des organmedizinischen Komplikationsrisikos – als große psychosomatische Herausforderung. Die Folgen der Nahrungsrestriktion und der mit dem Hungerstoffwechsel verbundenen physiologischen Mechanismen, vor allem zu einem kritischen Zeitpunkt der Hirnentwicklung, sind verheerend und vielfältig. Bei Bulimia nervosa oder bei der Anorexie – Binge-eating-/Purging-Typus können erweiterte Risiken durch die kompensatorischen Maßnahmen (z. B. Erbrechen, Abusus von Laxantien/Diuretika) hinzukommen.
Wachstumsstörung und Verzögerung der Pubertät werden häufig bei Jugendlichen mit Anorexie gesehen. Der Zeitpunkt ihres Untergewichts beeinflusst die weitere Entwicklung. Es gibt Hinweise auf ein Aufholwachstum bei der Mehrzahl der Patienten mit Anorexie, allerdings werden auch Nerven- und Wachstumsstörungen, wenn auch nicht bei allen, berichtet. Mögliche Risikofaktoren für Wachstumsverzögerung und potenzielle Wachstumsstörungen umfassen dabei jüngeres Alter und längere Krankheitsdauer. Die Fruchtbarkeit kann ebenfalls beeinträchtigt werden; Frauen mit Anorexia nervosa in der Vorgeschichte erleben Studien zufolge verzögerte Erstgeburten und geringere Parität im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung.
Eine Beeinträchtigung der Knochendichte bei chronischem Untergewicht, insbesondere in kritischen Entwicklungsphasen, wird oft berichtet. Zudem sind weitere neuroendokrine Prozesse stark beeinträchtigt. Zusätzlich wurde in den letzten Jahren in mehreren Metaanalysen und qualitativen Übersichtsarbeiten eine Volumenreduktion der grauen Hirnsubstanz in verschiedenen Hirnarealen, u. a. Hippocampus, zingulärer Kortex, Cerebellum und lateraler okkzipitaler Kortex, bei Anorexie-Patienten festgestellt. In einer aktuellen Metaanalyse konnten sowohl morphometrische als auch funktionelle Veränderungen der grauen Hirnsubstanz festgestellt werden.
Gemäß der S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung von Essstörungen ist die Psychotherapie als Behandlung der Anorexie die Methode der ersten Wahl. Die Leitlinie betont die Bedeutung der therapeutischen Beziehung und der störungsassoziierten Ambivalenz sowie die fehlende Veränderungsmotivation. Auch die Bedeutung der Veränderungsmotivation für den Langzeitverlauf, die Chronizität und Rückfälligkeit wurden in verschiedenen klinischen Studien diskutiert (z. B. Sansfaçon et al., 2017; Vall & Wade, 2015; McHugh, 2007).
Hinsichtlich des Behandlungssettings ist die empirische Evidenz für die Effektivität vollstationärer, im Vergleich zu ambulanten, Maßnahmen sehr begrenzt. Dies hängt zum großen Teil damit zusammen, dass eine kontrollierte, randomisierte Zuordnung von Patienten mit massivem Untergewicht ethisch-medizinischen Prinzipien widerspricht. Dieser Aspekt erschwert eine empirische Überprüfung der Effektivität verschiedener Behandlungssettings bei dieser kritischen und versorgungsmedizinisch anspruchsvollen Patientenpopulation. Eine Indikation für eine stationäre Krankenhausbehandlung liegt gemäß Empfehlungen der Fachgesellschaften bei folgenden Faktoren vor:
Für die ambulante Psychotherapie sollte eine evidenzbasierte psychotherapeutische Methode, welche entsprechend der Psychotherapie-Richtlinie auch anerkannt ist (z. B. transdiagnostische, störungsspezifische kognitiv-behaviorale Therapie CBT-E oder fokale psychodynamische Psychotherapie), eingesetzt werden. Hier ist allerdings zu beachten, dass einige international anerkannte und störungsspezifische Methoden (wie MANTRA: Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment for Adults; SSCM: Specialist Supportive Clinical Management) gemäß der Psychotherapie-Richtlinie in Deutschland für die Behandlung von Essstörungen nicht anerkannt sind.
Für Kinder und Jugendliche sollte ein familienbasiertes Vorgehen umgesetzt werden. Hierfür gibt es gemäß der Leitlinie auch keine Evidenz für die Effektivität besonderer Sitzungskonstellationen (z. B. welcher Elternteil begleitet). Es wird allerdings empfohlen, bei chronischen Streitsituationen und invalidierenden Äußerungen der Eltern getrennte Sitzungen (Eltern alleine, Kind alleine) durchzuführen. Die aktuelle Evidenz zeigt, dass kein spezifisches psychotherapeutisches Verfahren einem anderen überlegen ist.
Bis vor kurzem lagen wenig reliable Daten zum Langzeitverlauf von Anorexie-Behandlungen vor. In einer Übersichtsarbeit von 1998 beschreibt US-Psychologin Kathleen Pike ein ernüchterndes Bild: „Einige Individuen erholen sich vollständig; andere werden von einer chronischen Erkrankung heimgesucht; und manche sterben daran. Vorhersage und Verlauf von Anorexia nervosa werden erschwert durch die Komplexität der Störung, fehlende gemeinsame Terminologie bei der Erforschung des Störungsbildes und Mangel an kontrollierten klinischen Behandlungsstudien.“ Außerdem konstatiert die Professorin: „Es gibt keinen vorhersehbaren oder normativen Langzeitverlauf von Anorexia nervosa.“
Zum Glück hat sich in den letzten Jahren hinsichtlich der Definition von Störungskriterien und Verbesserung der Reliabilität von Messverfahren einiges getan. Trotzdem bleiben viele durchgeführte randomisiert-kontrollierte Studien nicht generalisierbar, aufgrund der geringen Stichprobe oder der geringe Repräsentativität der zu untersuchenden Population. Andere Studien hatten mit sehr hohen Drop-out-Raten zu kämpfen – bei einer Studie mittels CBT-E als Behandlungsverfahren lag sie bei fast 70 %.
Wenn man die bislang dargestellte Evidenzlage betrachtet, ist es umso schöner, sich mit den Ergebnissen der 2007 initiierten, gut designten ANTOP-Studie zu befassen. Die Daten wurden zu verschiedenen Messzeitpunkten erhoben. Aktuell wurden die Ergebnisse des 5-Jahre-Follow-up-Messzeitpunktes in Lancet Psychiatry vorgestellt. Die Studie gilt als die weltweit größte Psychotherapiestudie für ambulante Magersucht-Patienten.
Fünf Jahre nach Therapieende konnten 41 % der Patienten als genesen eingestuft werden, weitere 41 % zeigten teilweise Magersucht-Symptome und 18 % litten immer noch am Vollbild der Erkrankung. Ursprünglich wurden 242 Patienten mit diagnostizierter Magersucht mittels eines randomisierten Verfahrens in die drei Therapiegruppen eingruppiert. Die Behandlungsgruppen waren: fokal psychodynamische Psychotherapie (FPT, siehe oben), transdiagnostische und störungsspezifische kognitive Verhaltenstherapie (CBT-E, siehe oben) sowie eine Kontrollgruppe als optimierte ambulante Richtlinienpsychotherapie.
Interessant ist die Wahl der Kontroll- bzw. Vergleichsgruppe. Die Definition von Kontrollgruppen in klinischen psychiatrischen Studien – vor allem bei Essstörungen – ist sehr herausfordernd. Die hier verwendete Bedingung ist eine reale Repräsentation der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland. Die Patienten, die dieser Gruppe zugeordnet wurden, konnten sich ihre Psychotherapeuten frei aussuchen. In den anderen beiden Therapiebedingungen (FPT und CBT-E) folgten die Behandlungssitzungen einem standardisierten und manualisierten Ablauf.
Es konnten deutliche Verbesserungen in allen drei Therapiegruppen festgestellt werden. Dies zeigt sich in Normalisierung des BMI und der essensassoziierten Psychopathologie. Es gab keinen Unterschied zwischen den Behandlungsverfahren, bis auf kleinere Unterschiede zu früheren Messzeitpunkten (z. B. 1-Jahres-Follow bei der FPT oder schnellerer Anstieg des BMI bei der CBT-E). Die 5-Jahres-Nachuntersuchung zeigt einen weiteren Anstieg des BMI in allen drei Gruppen. Die allgemeine Drop-out-Rate betrug 36 %. Folgende Prädikatoren für einen guten Behandlungsverlauf konnten die Autoren mittels regressionsanalytischer Methoden feststellen:
Interessant wäre die Untersuchung weiterer, nicht nur psychopatholgierelevanter Variablen. Aufgrund der oben erwähnten pathophysiologischen Prozesse im Rahmen der Anorexie wäre die Untersuchung zu den Follow-up-Messzeitpunkten von neuroendokrinen, hormonellen und kardiovaskulären Variablen sehr zielführend. Die Studie untersuchte Frauen mit einem Alter von mind. 18 Jahren (keine Jugendlichen inkludiert). Daher wären weitere Maße zur Beurteilung der sozialen Teilhabe und weitere medizinische Variablen bei einer solch großen Stichprobe sehr interessant.
Die Langzeitstudie hat verschiedene Implikationen für die ambulante und klinische Versorgung von Menschen mit einer Anorexia nervosa. Zwar sind Frauen von der Krankheit proportional mehr betroffen (Verhältnis 1:12), es gibt jedoch auch vermehrt junge Männer, die sich wegen des Störungsbildes in Behandlung begeben. Insbesondere im Leistungssportsektor ist die Auseinandersetzung mit anorektischen Verhaltensweisen nicht fremd. Differenzierte Evidenz darüber ist leider sehr begrenzt. Unabhängig vom Geschlecht zeigen verschiedene Studien – auch die hier vorgestellte – dass ein früher Behandlungsbeginn, eine klare Fokussierung auf Gewichtsnormalisierung bzw. -anstieg und eine differenzierte und rasche Behandlung depressiver Begleitsymptome den Behandlungsverlauf begünstigen.
Wie bereits oben erwähnt, ist die Identifikation pathologischen Essverhaltens im generellen und im speziellen die Stellung der Diagnose Anorexie nicht trivial. Dies kann jedoch vom professionellen Versorgungssystem erschwert werden. Aus bisheriger klinischer Erfahrung kann ich sagen: Viele Betroffene haben mit Verharmlosungen und Bagatellisierungsneigung in der ambulanten Versorgung zu kämpfen. Sogar wenn Patienten sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, wird ihnen nicht selten beispielsweise von Hausärzten, Pädiatern oder Apothekern vorgeworfen, sie würden sich „zu viele Gedanken machen“; sie seien doch „lieber zu dünn als zu dick“. Auch Aussagen wie „Die Psychotherapeuten übertreiben immer“, „Das Blutbild ist in Ordnung, Sie haben nichts! Aber wenn es hilft, dann machen Sie ruhig eine Therapie!“ sind wenig zielführend und konterkarieren die noch instabile und fast schutzbedürftige Veränderungsmotivation. Dies ist insbesondere vermehrt zu beobachten bei der Subkategorie atypische Anorexia nervosa, wenn tatsächlich kein Untergewicht oder hämatologisch-internistische Auffälligkeiten bestehen.
Statt als Weg zur Heilung und unter Berücksichtigung, was viele Patienten nach einer langen und erfolgreichen Behandlung berichten, sollten wir die Therapie der Anorexia nervosa vielleicht eher als Weg zur Freiheit betrachten. Es geht darum, frei von anorektischen und perfektionistischen Zwängen zu sein und sich nicht vom Gewicht auf der Waage bestimmen zu lassen. Diese Freiheit kann sich auch punktuell und zeitweise einstellen. Bei einigen Patienten sind es genau diese Episoden, die das Durchhaltevermögen stärken und zu stabileren Verläufen animieren.
Bildquelle: Olenka Kotyk, Unsplash