Therapien ohne Evidenz und Eingriffe, die nicht immer notwendig sind: So sieht der Alltag in deutschen Orthopädie-Praxen aus. Was ist da eigentlich los?
Etwa 37 Millionen Patienten werden jährlich wegen Muskel-, Skelett- oder Bindegewebserkrankungen im orthopädisch-ambulanten Sektor behandelt – mit mehr oder minder großem Erfolg. Spritzen oder gar Operationen lindern die Beschwerden nicht immer; die Enttäuschung ist groß. Woran das wohl liegt?
Ein handfestes Problem ist und bleibt die orthopädische Weiterbildung – das geben selbst Fachgesellschaften unumwunden zu. Rund 90 Prozent der Nachwuchsmediziner bilden sich in Kliniken weiter. In der Orthopädie und Unfallchirurgie erfahren sie viel über komplexe OPs – bis hin zur Schwerverletztenversorgung.
Nur spielen solche Eingriffe in der ambulanten Versorgung aber keine Rolle. Und für banale, aber umso häufigere Themen, fehlt schlichtweg die Routine. Auch die Spezialisierung in Kliniken auf bestimmte Eingriffe kann schnell in die falsche Richtung führen.
Bestes Beispiel ist die Endoprothetik. Von solchen Eingriffen profitieren manche – aber keineswegs alle – Patienten mit Gelenkdefekten. Doch der Markt ist groß: Arthrosen zählen zu den häufigsten Gelenkerkrankungen. Schätzungsweise ist jeder dritte Mann und jede zweite Frau über 60 Jahre betroffen.
Eigentlich sollten Patienten in allen Bundesländern ähnlich oft zu finden sein, doch weit gefehlt: In Bayern, Hessen, Thüringen und Niedersachsen ist die Häufigkeit von Kniegelenk-Operationen deutlich höher als in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg. Medizinische Gründe gibt es dafür nicht. Die Bertelsmann-Stiftung nennt Unterschiede bei der Versorgungsdichte, bei ärztlichen Empfehlungen, bei Präferenzen der Orthopäden, bei der Nachfrage nach OPs und bei Erwartungen an die Lebensqualität als mögliche Ursachen. Auch bei Arthroskopien gibt es große Unterschiede – um das bis zu 65-Fache. Kniespiegelungen verringern die Häufigkeit endoprothetischer Eingriffe jedoch nicht.
Ähnliche Effekte zeigen sich bei der Behandlung von Rückenschmerzen. Ob Patienten konservativ oder chirurgisch behandelt werden, hängt in Teilen auch vom Wohnort ab. Die Analyse umfasst Spondylodesen, Dekompressionsoperationen und Bandscheiben-OPs. Die Eingriffe werden dabei teilweise um bis zu 13-mal häufiger in bestimmten Regionen gegenüber anderen durchgeführt.
Bleibt als Mutmaßung, dass Präferenzen ortsansässiger Orthopäden eine stärkere Rolle spielen als Leitlinien. Wer fit in Endoprothetik ist, empfiehlt solche Eingriffe wohl häufiger, als ein Kollege ohne die Expertise.
Bleiben wir beim Thema Knie. Seit rund 50 Jahren bieten Orthopäden bei Schmerzen Viscosupplementationen mit Hyaluronsäure an, obwohl die meisten randomisierten, kontrollierten Studien zeigen, dass diese keinen Nutzen hat. Dennoch hält sich die Intervention hartnäckig in der Praxis.
Eine große, kürzlich veröffentlichte Metaanalyse bestätigt den fehlenden Nutzen. Die Autoren finden bei der Verringerung von Schmerzen oder bei der Verbesserung der Funktionalität nur „Effekte auf Placebo-Niveau“, jedoch ein „statistisch signifikant höheres Risiko für schwerwiegende unerwünschte Ereignisse als bei Placebo“. Sie sprechen sich gegen eine Viscosupplementation bei Patienten mit Arthrose des Kniegelenks aus. Also: Orthopäden, warum lasst ihr das nicht bleiben?
Doch nicht nur bei Beschwerden rund ums Kniegelenk suchen Patienten Hilfe bei niedergelassenen Orthopäden. Wer viel am Computer arbeitet oder sportlich aktiv ist, belastet das muskuloskelettale System einseitig. Die Deutsche Gesellschaft für Extrakorporale Stoßwellentherapie e. V. spricht vollmundig von „Behandlungsoptionen, die weit über die bekannten Standardindikationen wie Kalkschulter, Fersensporn und Tennisellbogen hinausgehen“. Stoßwellen sollen, so die Theorie, die Regeneration erkrankter Bereiche ankurbeln und damit gegen Schmerzen wirken.
Das klingt erstmal gut, doch dieses Bild wandelt sich schnell durch einen Blick in die wissenschaftliche Literatur. Viele Studien sind methodisch angreifbar und Scheininterventionen fehlen. Kurzfristig können Stoßwellen jedoch zu unerwünschten Effekten führen. Kein Wunder, dass die Behandlung zu den Selbstzahler-Leistungen zählt.
Bleibt als Fazit: Wie so oft ist weniger eben mehr – dafür setzt sich die internationale Initiative Choosing Wisely ein. Ärzte aller Fachrichtungen sollten sich vor falschen Wünschen der Patienten, aber auch vor dem eigenen Enthusiasmus, bestimmte Interventionen ungefragt durchzuführen, schützen.
Bildquelle: Lance Anderson, unsplash