Männer sind anders depressiv als Frauen – das sehe ich täglich in meiner Praxis. Denn obwohl die Depression als Frauenkrankheit gilt, sind mindestens genauso viele Männer betroffen. Zeit, dass sich was ändert!
Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken, liegt gemäß S3-Leitlinie national wie international bei 16 bis 20 Prozent. Die 12-Monats-Prävalenz für unipolare Depression ist dabei bei Frauen mehr als doppelt so häufig wie bei Männern. Allerdings erlebe ich in der klinischen Praxis gefühlt genauso viele Männer wie Frauen, die an depressiven Symptomen leiden – dies jedoch mit deutlichen Geschlechtsunterschieden. Männer sind anders depressiv als Frauen, oder: Frauen sind anders depressiv als Männer.
Die Debatte der Geschlechtsdifferenzen in der Manifestation psychischer Störungen, insbesondere bei Depression, ist nicht neu. Mehrere wissenschaftliche Erhebungen und Übersichtsarbeiten zeigen deutliche Unterschiede in der männlichen Depression. Erwachsene und jugendliche männliche Personen fallen öfter aus dem diagnostisch-klassifikatorischen Raster einer klinischen Depression. Sie zeigen externalisierende Verhaltensweisen, mehr Risikoverhalten, Aggressionen, und selbstdestruktive Tendenzen – vor allem durch Substanz- und Alkoholkonsum.
Viele erwachsene Männer in gut angesehenen Positionen mit erfolgreicher sozialer Integration, oft auch in Chefetagen, kanalisieren die depressiven Symptome in exzessive Verhaltenstendenzen, etwa in der Arbeit oder beim Sport. Man mag darüber diskutieren, ob dies eine „gesunde“ Form der Abwehr oder eine Art Sublimation ist. Fakt ist, zumindest, wenn sie psychiatrisch-psychotherapeutisch vorstellig werden, dass sie leiden.
In den letzten Jahren wurde über die geschlechtsspezifischen Gründe für die Unterschiede in der Symptommanifestation und der verhältnismäßig geringen Inanspruchnahme von psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung von Männern geforscht. Das zeigt auch ein systematisches Review zur Rolle der Männlichkeit bei Depression.
Studien zeigen, dass nicht nur neurobiologische, endokrine Unterschiede in der Metabolisierung von antidepressiver Medikation, sondern auch unterschiedliche psychosoziale Faktoren, wie die soziale Identität, die Sozialisationserfahrungen von „typisch männlich“ und eine Art, männliche emotionale Sprachlosigkeit oder Blindheit – in vielen Publikationen, wenn auch ein anderes Konzept, als Alexithymie bezeichnet – sind im Fokus der wissenschaftlichen Debatte. Oft sind Berührungsängste von männlichen Jugendlichen mit dem Thema Gefühle ausschlaggebend und die Aversion davor, sich traurig, unfähig und hilflos zu zeigen.
Die männliche Art, depressiv zu sein, beschäftigt auch öfter andere Akteure, als die, die im Gesundheitssektor tätig sind, z. B. Strafverfolgungsbehörden. Aus forensischer Sicht stellt sich auch die Frage, ob einige Gewaltverbrechen zum Nachteil von Frauen, Femizide oder häusliche Gewalt, mitunter nicht auch Ausdruck einer verkannten und nicht identifizierten Depression bei den entsprechenden Tätern bzw. Beschuldigten sein könnten. Verschiedene forensisch-psychologische Erhebungen zum Thema „Tötung von Lebenspartnern“ zeigen depressive Manifestationen in der Vorgeschichte.
Typisch männliche Eigenschaften und hypermaskuline Vorstellungen reduzieren die Wahrscheinlichkeit einer professionellen Inanspruchnahme. Viele Jugendliche mit schwerwiegenden Suchterkrankungen, Depression und Vorstrafen sagen im Rahmen der Therapie: „Lieber Knast als Therapie, das ist wenigstens etwas für richtige Männer!“
Die Forschung hat sich in den letzten Jahren hingegen darum bemüht, diese diagnostische Geschlechterlücke zu füllen. Mittlerweile sind einige genderkorrigierte Diagnostikinstrumente veröffentlicht – beispielsweise für Depression bei Männern die MDRS-7.
Gesellschaftlich sollte jedoch präventiv noch viel getan werden, um die Behandlungsbarrieren bei männlichen Jugendlichen und Männern zu eliminieren. Zwar existiert schon eine Vorstellung vom modernen Mann, der auch Gefühle zeigt. Die Frage ist nur: Welche Gefühle und wie und wann darf „mann“ diese zeigen?
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