CORONA-KLARTEXT | Wirkt eine histaminarme Ernährung gegen Long Covid und ME/CFS? Welche Empfehlung gibt es bei Schlafstörungen? Und welches Training hilft bei der Genesung? Dr. Stingl liefert Tipps aus der Praxis.
Die letzte digitale Sprechstunde von DocCheck Experts drehte sich um das Thema Long Covid und ME/CFS. Das Gespräch mit Experte Dr. Michael Stingl fand auch diesmal als Live-Stream statt. Moderiert wurde das Ganze von unserem Medical Content Manager Mats Klas, der eure Fragen gestellt hat. Stingl ist als Neurologe am Facharztzentrum Votivpark in Wien tätig. Den zweiten Teil unserer Reihe könnt ihr hier nachlesen oder euch einfach als Video anschauen.
Bei neuropsychologischen Untersuchungen kommt es in erster Linie immer auf die Fragestellung der Untersuchung an. Wenn man beispielsweise einen Demenz-Test bei Long-Covid-Patienten durchführt, wird man nicht wahnsinnig viele Auffälligkeiten finden, weil die kognitiven Probleme anders sind. Ich bin auch mit dem Begriff der myalgischen Enzephalomyelitis unglücklich, weil er eine Schädigung des Gehirns impliziert. Und ich glaube, dass es bei den meisten Leuten keine Schädigung des Gehirns gibt. Wenn man die richtige Therapie startet, gibt es auch oft eine Besserung der Symptome. Es scheitert nicht daran, dass etwas prinzipiell nicht funktioniert. Die Menschen können sich meist konzentrieren, nur nicht lange und ermüden schnell. Meines Erachtens kann man diese kognitive Ermüdbarkeit genauso wenig wegtrainieren, wie man körperliche Erschöpfung oder Post-Exertional-Malaise (PEM) wegtrainieren kann.
Es gibt nicht das eine Wundermittel, das man einfach bei Ein- und Durschlafstörungen bei Long Covid oder ME/CFS verwendet. Man würde primär versuchen, so zu behandeln, wie man sie unabhängig von den beiden Krankheitsbildern behandeln würde.
Ein interessanter Aspekt ist die autonome Dysfunktion, die bei vielen Patienten vorhanden ist. Betroffene beschreiben, dass sie sich tagsüber überanstrengt haben, worauf am Abend irrsinniges Herzrasen folgt, was hinderlich beim Einschlafen ist. Dabei geht es auch um die Optimierung dieser orthostatischen Intoleranz, die damit einhergeht – entweder durch nicht-medikamentöse oder medikamentöse Maßnahmen. Das sollte keine Dauertherapie sein, doch man kann punktuell an den Tagen, an denen man zu viel gemacht hat und der Herzschlag verrückt spielt, schauen, ob man Lorazepam nimmt, um diese Symptome runter zu regulieren. Wenn man das nur als Bedarfsmedikament verwendet, besteht auch keine Gefahr einer körperlichen Abhängigkeit.
Ein zweiter Punkt: Es gibt das Konzept der Mastzell-Aktivierung bzw. das Mastzell-Aktivierungs-Syndrom. Es kommt zu einer Überaktivität der Mastzellen, die von der Infektion getriggert werden. Dann kommt es zur frühzeitigen Freisetzung bestimmter Entzündungsparameter, beispielsweise Histamin. Das kann den Schlaf theoretisch auch schlechter machen. Dabei kann man einen Therapieversuch mit Antihistaminika starten. Man kann auch die üblichen Medikamente wie Mirtazapin oder Quetiapin ausprobieren.
In Bezug auf ME/CFS, was eigentlich ein neurologisches Krankheitsbild ist, gibt es überschneidenden Dinge mit immunologischen Problemen, wie eben diese Mastzell-Aktivierung. Bei ME/CFS – und bei Long Covid vermutlich etwas mehr – kann die Gabe von Antihistaminika einen positiven Effekt erzielen: bei manchen Patienten sehr drastisch, wiederum bei anderen können zumindest manche Teilsymptome verbessert werden.
Es lohnt sich auf jeden Fall nach den Symptomen einer Mastzell-Aktivierung zu fragen, also nach Hautsymptomen wie Juckreiz oder Flushing, unerklärlichen Verdauungsproblemen, neu aufgetretenen Unverträglichkeiten, Histamin-Symptomen wie migräneartige Kopfschmerzen oder neuropsychiatrischen Problemen sowie Kreislaufproblemen und Gelenkschmerzen. Personen, die von Mastzell-Aktivierung betroffen sind, berichten häufig, dass sie keinen Alkohol vertragen oder alte Verletzungen wie etwa ein Bänderriss von vor 20 Jahren plötzlich wieder weh tut. Das sind natürlich alles Dinge, die können auch andere Ursachen haben – doch man muss abklären, was dahintersteckt.
Aber ein pragmatischer Versuch mit Antihistaminika ist meines Erachtens nichts schändliches, denn im schlimmsten Fall funktioniert es nicht. Es ist definitiv eine billige und niederschwellige Option einen H1- und H2-Blocker zu geben und über einige Wochen zu schauen, was sich tut.
Eine histaminarme Ernährung sollte nicht dauerhaft erfolgen, aber man kann es zumindest probieren. Viele Patienten, die Mastzell-Aktivierung haben, haben per se keine Histaminunverträglichkeit: An manchen Tagen vertragen sie problemlos histaminhaltige Dinge, an anderen Tagen gar nicht. Und das erschwert oft die Mustererkennung. Man kann eine histaminarme Ernährung probieren und im Auge behalten, ob es einen Effekt hat oder nicht. Und das gehört allergologisch und gastroenterologisch abgeklärt, bevor man zu große Experimente macht.
Ich denke bei Long Covid schon – wenn es nicht bereits zu lange andauert. Beim ME/CFS nicht, weil es meistens schon impliziert, dass das Krankheitsbild schon viele Jahre da ist. Ich persönlich kenne auch niemanden, der sich erholt hat. Es gibt natürlich anekdotische Berichte, bei denen Betroffene berichten, dass eine bestimmte Art der Ernährung, Supplements oder Meditationsprogramme geholfen hätten. Und das ist schön, wenn es funktioniert. Aber das ist nicht auf die große Allgemeinheit der ME/CFS-Patienten umlegbar. Bei Long Covid sage ich deshalb „Ja“, weil ich selber genug Leute kenne, die sich von der Erkrankung erholt haben. Ich hatte erst kürzlich mit einer Patientin gesprochen, der es vor einem Jahr noch sehr schlecht ging und nun wieder 40 h die Woche arbeiten kann. Sie hat auch sehr gut von Antihistaminika und Naltrexon profitiert sowie vom Pacing – also ein Training mit Geduld und Akzeptanz sowie lansamen Steigern der Aktivität an das, was geht.
Im Prinzip bedeutet es, dass man Sachen nicht so wie gewohnt wegtrainiert. Pacing bedeutet somit, beim Training oder bei der Aktivität darauf zu achten, wo die Grenzen liegen. Und diese Grenzen sollte man nicht übersteigen. Viele Betroffene bemerken diese Grenzen auch von selber; aber es gibt auch viele, die sich zu sehr pushen und der Zustand dadurch laufend schlechter wird.
Je enger diese Grenzen liegen, desto schwierige ist es, sie zu erkennen. Doch was körperliche Aktivität angeht, gibt es richtungsweisende Möglichkeiten: Beispielsweise durch die Verwendung einer Pulsuhr oder einer bestimmten Formel zur Ermittlung des Maximalpuls, bei der man 220 mit dem Lebensalter subtrahiert. Davon nimmt man etwa 60 % – das entspricht ungefähr der Herzfrequenz, die man als Maximum bei der Aktivität anpeilen sollte. Diese Dinge dienen jedoch lediglich als Orientierung und sind nicht in Stein gemeißelt. Auch bei der kognitiven Aktivität ist es ähnlich, doch das Problem ist, man erkennt die Grenzen schlechter, weil man beispielsweise die Pulsrate nicht hernehmen kann. Dabei geht es darum zu schauen, wie lange man sich konzentrieren kann.
Darum geht es also: Die Wahrnehmung, wie der Körper auf bestimmte Aktivität reagiert. Meiner Erfahrung nach, ist das Pacing die Grundlage der Therapie. Wenn das nicht funktioniert, dann kann man auch Medikamente geben wie man will; doch im Großen und Ganzen wird der Zustand nicht besser, weil diese Medikamente nicht heilen, sondern den Aspekt des Pacings erweitern. Bei einem solchen Punkt kann es auch zu einem sogenannten „Crash“ kommen bzw. zur PEM – es geht also darum, das zu verhindern.
Der typische Fall: Es sind meist Patienten, die zuvor eine einfache Corona-Infektion hatten – durchaus auch Personen, die dreifach geimpft waren. Manche Patienten waren dann direkt im Anschluss nach der auskurierten Infektion von ihren Symptomen anhaltend krank oder erschöpft. Die haben dann ein bis zwei Wochen versucht zu arbeiten und dann gemerkt, das geht nicht so leicht. Es gibt Betroffene, da kommt es dann auch zu einem Einbruch und dann sind diese Long-Covid-Symptome da. Und dann gibt es wiederum Patienten, bei denen es besser wird; um die man sich keine Sorgen machen muss, weil es wahrscheinlich so oder so besser wird. Auch diesen Patienten muss man sagen, wenn sie bemerken, dass ihr Zustand bei Anstrengung zu einer massiven Verschlechterung führt, dass sie pacen sollten.
Allerdings sehe ich die Betroffenen verhältnismäßig spät: Das heißt, ich sehe sie erst nach einem halben bis dreiviertel Jahr. Und das sind dann häufig Patienten, bei denen sich sehr wenig getan hat und die Symptome und deren Einschränkungen relativ konstant bleiben – manchmal auch ein wenig besser oder schlechter werden. Umso wichtiger ist es, frühzeitig mit der Therapie zu beginnen.
Antihistaminika sind für mich ein Grundpfeiler des einfachen diagnostischen Therapieversuchs. Des Weiteren verwende ich drei Off-Label-Medikamente, die antientzündlich wirken: Naltrexon, das normalerweise beim Alkoholentzug verwendet wird und die reguläre Dosis bei 50 mg liegt; aber in dem Fall startet man mit 0,5 mg. Niedrig dosiertes Aripiprazol (0,25 mg), bei dem Patienten von positiven Effekten auf ihre kognitive Funktion und ihr Krankheitsgefühl berichten. Und das halbdosierte Fluvoxamin, über das es auch Studien gibt, dass es den akuten Covid-Verlauf abmildert und auch bei problematischer und längerer Krankheitsdauer zu massiven Verbesserungen führt. Statine versuche ich immer mal wieder Off-Label – mal hilft es, mal nicht.
Besonders wichtig ist auch die orthostatische Intoleranz: Viele Long-/Post-Covid-Patienten haben Probleme mit der Kreislaufregulation oder sogar das posturale orthotastische Tachykardiesyndrom (POTS). Das ist dadurch gekennzeichnet, dass wenn Betroffene aus dem Liegen aufstehen, der Herzschlag um mehr als 30 Schläge pro Minute ansteigt, der Blutdruck nicht deutlich absinkt und sie von vegetativen oder orthostatischen Symptomen begleitet werden. Auch die sogenannte orthostatische Hypotension kann auftreten.
Bei diesen Patienten muss man den Schellong-Test machen, der zeitaufwendig ist. Bei diesen Symptomen kann man auch gut nicht-medikamentös therapieren, beispielsweise indem man vor dem Aufstehen viel trinkt oder Elektrolytlösungen verwendet und kurz liegen bleibt bis man aufsteht. Dann auch Kompressionsstrümpfe anzieht, die bis zu den Oberschenkeln gehen, die Füße hochlagert, mit überkreuzten Beinen steht oder kalte Fußbäder nimmt.
Ivabradin oder niedrigdosierte Betablocker können ebenfalls helfen. Wobei meiner Erfahrung nach die Patienten häufig einen niedrigen Blutdruck haben und dieser durch die Betablocker weiter runtergeht. Mestinon, was das Acetylcholin im Parasympathikus erhöht, daneben kann man Midodrin sowie Fludrocortison ebenfalls ausprobieren.
Diese medikamentösen oder auch nicht-medikamentösen Therapien erleichtern dann auch das Pacing, sodass die Patienten nicht so leicht in die Überanstrengung kommen. Wichtig ist auch eine kardiologische Abklärung, um beispielsweise eine Myokarditis auszuschließen.
Zunächst schaue ich mir an, ob die Patienten darauf ansprechen. Und wenn sie einen Effekt haben, dann gebe ich sie für drei bis sechs Monate – das ist eine unbedenkliche Zeitspanne, in der sich oft was tut.
Was sollten nicht-neurologische Kollegen beachten, wenn sie Patienten nach Covid mit Residualsymptomen behandeln?
Ein ganz wichtiger Punkt: Herrscht eine orthostatische Intoleranz? Ich mache den Schellong-Test auch nicht in der Praxis. Denn er frisst Zeit und Anstrengung, somit hat auch der Patient Stress. Wenn die Patienten diese Werte zu Hause in Ruhe messen, sind sie wesentlich reiner. Man sollte also dem Patienten die Anleitung zum Schellong-Test mitgeben, denn es ist ein simpler Test. Hat der Patient kognitive Symptome, sollte man auch ein MRT machen.
Viele Patienten haben auch eine Small-Fiber-Neuropathie – da muss man nach den Symptomen der Dysautonomie fragen: Gibt es trockene Augen oder einen trockenen Mund? Hat sich beim Schwitzen was verändert? Gibt es Probleme bei der Temperaturregulation? Und gibt es gastrointestinale Symptome? Das sind alles Dinge, die aber auch andere Ursachen haben können. Dabei geht es dann eher um das gesamte Muster. Ich teste bei den Patienten auch immer das Temperaturempfinden. Denn bei einer Small-Fiber-Neuropathie hat man oft ein eingeschränktes Temperaturempfinden an Händen und Füßen. Das wäre dann auch der Punkt, an den man den Patienten an eine Spezialambulanz verweisen sollte.
Aber es gibt drei Punkte, bei denen der Hausarzt eine primäre Anlaufstelle ist: Pacing, Kreislauf und Antihistaminika. Das sind drei niederschwellige Therapien, die bei vielen Patienten schon sehr viel bewirken können. Wenn sich das unter den niedergelassenen Ärzten rumspricht, könnte vermutlich eine wesentlich bessere Versorgung für Patienten mit Long Covid möglich sein; und so auch wesentlich mehr Langzeitfolgen wie ME/CFS vermieden werden.
Weitere Infos zu Long Covid bekommt ihr hier: