Eine junge Frau kommt wegen sekundärer Amenorrhoe erstmals in die gynäkologische Praxis. Es beginnt eine lange Odyssee, bei der die Patientin schließlich auf der Intensivstation landet.
Mit 17 Jahren stellte sich eine junge Frau erstmals in der gynäkologischen Praxis vor. Sie berichtete von einer bewussten veganen Ernährung seit dem 14. Lebensjahr. Außerdem achte sie sehr auf ihr Gewicht, treibe viel Sport und nehme Nahrungsergänzungsmittel mit B12, Eisen und Jod. Die Laborwerte waren beim Hausarzt bisher im Normbereich. Die Menarche war mit 14 Jahren, seither war keine Blutung mehr aufgetreten.
Bei der körperlichen Untersuchung fielen eine verzögerte Brustentwicklung im Tanner-Stadium 3–4 und eine Stirnakne auf. Der BMI war mit 19 kg/m² grenzwertig. Eine gynäkologische Untersuchung wurde abgelehnt. Im Hormonlabor lag Estradiol (26 pg/ml) auf niedrigem Niveau, die Gonadotropine (FSH 7,5 U/l, LH 2,9 U/l) im unteren bis mittleren Referenzbereich der fertilen Lebensphase. Prolaktin und Androgene waren unauffällig, TSH sprach für eine euthyreote Funktionslage.
Der Patientin wurde ein klassisches kombiniertes Kontrazeptivum mit antiandrogener Komponente verordnet. Ziel war die Herstellung eines normalen Menstruationszyklus, Stabilisierung der Knochendichte und eine Zusatzwirkung auf die Gesichtshaut. Bei einem halbjährigen Kontrolltermin gab die Patientin an, sie hätte die Hormone nicht eingenommen und stehe einer Hormontherapie kritisch gegenüber. Einer alternativen Verordnung mit einer bioidentischen Hormonersatztherapie stimmte sie schließlich zu. Eine regelmäßige hausärztliche Betreuung wollte sie wahrnehmen.
Weitere Kontrolltermine wurden nicht eingehalten und die Patientin kam erst nach zwei Jahren wieder in die gynäkologische Sprechstunde. Zwischen dem 17. und 18. Lebensjahr habe sie etwas an Gewicht zugenommen (BMI 21,5 kg/m²) und einige Periodenblutungen gehabt. In den letzten 6 Monaten hat sie 12 kg abgenommen, einerseits durch bewusste Ernährung, andererseits durch exzessiven Kraftsport. Hormone hat sie nie eingenommen – sie möchte diese auf der einen Seite nicht nehmen, auf der anderen Seite mache sie sich schon Gedanken, ob die ausbleibende Periode und die verzögerte Brustentwicklung gut für ihre Gesundheit wären.
„Kann ich durch eine Hormontherapie das Versäumte wieder aufholen?“ so die wiederholte, fast panische Frage der jungen Frau. Auffallend bereits auf den ersten Blick sind jetzt das starke Untergewicht (BMI 16,8 kg/m²), eine fahle, gelbliche Gesichtsverfärbung und ein insgesamt reduzierter Allgemeinzustand. Bei der körperlichen Untersuchung ist kaum noch Körperfett vorhanden, die Haut sehr trocken, aufgekratzt und die Brustentwicklung für das Lebensalter unterentwickelt.
Im abdominellen Ultraschall erscheint der Uterus normal, die Ovarien sind nicht darstellbar. Die vaginale oder rektale Ultraschalluntersuchung wird abgelehnt. Der PAP-Abstrich ergibt einen sehr niedrigen Proliferationsgrad. Durch die Mitwirkung der Hausärztin ist die Patientin mittlerweile in psychologischer Therapie. Reduzierte Ernährung und exzessiven Kraftsport möchte sie nicht aufgeben, eigentlich auch nicht an Gewicht zunehmen, sondern nur ihre Periode und eine normale Brust haben. Sie wirkt angespannt.
Es erfolgt ein langes Gespräch über die Situation. „Ihr Körper kann den Mangel auf Dauer nicht kompensieren. Das starke Untergewicht wirkt sich negativ auf den Stoffwechsel, die Knochendichte und die hormonelle Situation aus. Ohne Gewichtszunahme, Hormontherapie und psychologische Hilfe kommt es zum Zusammenbruch“, so der dringende Appell an die Patientin. Schließlich ist sie damit einverstanden, sich in der endokrinologischen Sprechstunde einer Universitätsfrauenklinik vorzustellen, da sie eine Zweitmeinung bezüglich einer Hormontherapie wünscht. Ebenfalls einverstanden ist sie mit einer Knochendichtebestimmung und einem ambulanten Termin bei einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Die psychologische Begleitung hatte sie aufgegeben.
Eine stationäre Aufnahme in eine psychotherapeutische Klinik für junge Erwachsene mit Essstörung wurde ihr mehrfach empfohlen. Die Patientin lehnt dies ab.
Die Befunde der mitbehandelnden Kollegen bestätigen einen deutlich reduzierten Allgemeinzustand, bei einer mittlerweile bedrohlichen Essstörung. Die jahrelange Orthorexie, dem krankhaften Verlangen sich möglichst „richtig“ zu ernähren, mündet in die Verdachtsdiagnose Anorexia nervosa.
Im Labor zeigt sich ein ausgeprägter hypogonadotroper Hypogonadismus mit einem Gonadotropinspiegel unterhalb der Nachweisgrenze. Der Estradiolspiegel ist stark erniedrigt. Die Androgene sind im Normbereich. Weitere Laborauffälligkeiten sind deutlicher Eiweißmangel, Hyponatriämie, Hypokalzämie, Hypervitaminose B12 und erhöhte Transaminasen.
In der Osteodensitometrie wird eine ausgeprägte Osteopenie, die einem postmenopausalen Status gleichkommt, diagnostiziert. Es herrscht eine osteokatabole Stoffwechselsituation. Die Kollegen raten der Patientin zu einer Hormonersatztherapie, Reduktion des exzessiven Krafttrainings und fachärztlichen Therapie der Essstörung.
Die Ergebnisse der Zweitmeinung werden mit der Patientin nochmals besprochen und nötige Therapiemaßnahmen zum wiederholten Mal eindrücklich empfohlen. Daraufhin sagt sie die vereinbarten Kontrolltermine ab, ebenso bei der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Von der Patientin genehmigte Telefonate mit den mitbehandelten Kollegen bestätigen die beratungsresistente Haltung der jungen Frau. Eine Einweisung wegen Eigengefährdung steht als Ultima Ratio im Raum.
Dank des engagierten Handelns der Angehörigen willigt die Patientin schließlich in die Klinikeinweisung ein. Wenige Tage später wird die Patientin wegen internistischer Komplikationen auf die Intensivstation verlegt. Nach vielen Gesprächen, Therapieabbrüchen und einer gerade noch rechtzeitigen Klinikaufnahme befindet sich die junge Frau nun auf dem Weg der Besserung.
Die Prävalenz der Anorexie liegt europaweit bei 0,5–2 %, mit einem Höchststand im Alter zwischen 13 und 18 Jahren. Mädchen und junge Frauen repräsentieren eine Hochrisikogruppe für die Entwicklung von Essstörungen. Die Prävalenz ist im Vergleich zu gleichaltrigen Jungen und jungen Männern bis zu 10-fach erhöht. Sinkt der BMI unter 16 kg/m², sollte eine Klinikeinweisung erfolgen. Gefürchtet sind lebenslange Folgeschäden. Die ausgeprägte Kachexie kann lebensbedrohlich sein, die Suizidalität ist erhöht. In deutschen Kliniken wurden im Jahr 2020 insgesamt 7.355 Fälle von Anorexia nervosa diagnostiziert, die Erkrankung forderte 46 Menschenleben (mehr dazu hier).
In der gynäkologischen Praxis entsteht zu einzelnen Patientinnen eine besondere Nähe und Vertrauensbasis. Bei einer schwerwiegenden Erkrankung wie der Anorexia nervosa ist es entscheidend, dass der Patientenkontakt nicht abreißt. Besonders wichtig ist dabei ein Netzwerk aus Kollegen anderer Fachrichtungen, um das Ausmaß der Erkrankung einzuschätzen und die Patientin gemeinsam von der Notwendigkeit einer stationären Therapie zu überzeugen. Engagierte Angehörige leisten oftmals den entscheidenden Beitrag, damit rechtzeitig geholfen werden kann.
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