Diabetes hat schon jetzt pandemische Züge. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Entwicklung noch beschleunigt. Liegt es wirklich an Corona?
Eine Corona-Infektion kann schwere kardiovaskuläre Folgen haben, sowie Long Covid – das ist bekannt. Aber wie sieht es mit der Entstehung von Diabetes aus? Studien zeigen einen gewissen Zusammenhang: Personen, die an COVID-19 erkranken, haben bis zu einem Jahr danach ein erhöhtes Risiko, Typ-2-Diabetes zu entwickeln – auch nach einem milden Verlauf.
„Wenn die ganze Pandemie zurückgeht, werden wir mit dem Erbe dieser Pandemie zurückbleiben – einem Erbe chronischer Krankheiten“, auf das die Gesundheitssysteme nicht vorbereitet sind, sagt Dr. Ziyad Al-Aly, leitender Forscher für die Veterans Affairs (VA) St. Louis Health System, USA. Er ist Co-Autor einer Studie, die die Inzidenz von neu entwickeltem Diabetes in einer Kohorte von mehr als 180.000 COVID-19-Patienten erfasste, die länger als einen Monat nach der Ansteckung überlebt hatten. Die Forscher verglichen diese Kohorte außerdem mit zwei weiteren Gruppen, die etwa 4 Millionen Menschen ohne SARS-CoV-2-Infektion umfassten und die das Veteranen-Gesundheitssystem entweder vor oder während der Pandemie genutzt hatten. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin The Lancet – Diabetes & Endocrinology veröffentlicht.
Die Analyse ergab, dass Menschen, die COVID-19 hatten, bis zu einem Jahr später mit etwa 40 % höherer Wahrscheinlichkeit an Diabetes erkrankten als die Veteranen in den Kontrollgruppen. Das bedeutete, dass für jeweils 1.000 untersuchte Personen in jeder Gruppe etwa 13 weitere Personen in der COVID-19-Gruppe mit Diabetes diagnostiziert wurden (48 respektive 35 Personen mit Diabetes in Gruppe mit COVID-19 und ohne). Ähnliche Ergebnisse ermittelten die Forscher auch im Vergleich zur Kohorte ohne COVID-19, die vor Pandemiebeginn (März 2018 bis September 2019) erfasst wurde.
Darüber hinaus stieg die Wahrscheinlichkeit, an Diabetes zu erkranken mit zunehmendem Schweregrad der Covid-Erkrankung: Verglichen mit den Personen ohne COVID-19 im gleichen Zeitraum (34 Personen pro 1.000 Menschen), waren jeweils 8, 57 und 89 weitere Probanden (nicht im Krankenhaus, hospitalisiert und auf der Intensivstation) bis zu einem Jahr später betroffen.
In Deutschland nehmen die Zahlen anscheinend ein ähnliches Ausmaß an: Die deutschen Forscher um Rathmann et. al verglichen in ihrer retrospektiven Kohorten-Studie knapp 36.000 COVID-19-Patienten mit Probanden, die an akuten viralen Atemwegserkrankungen erkrankten. Dabei stellten sie ebenfalls ein erhöhtes Risiko fest, nach einer COVID-19-Erkrankung einen Diabetes zu entwickeln (15,8 vs. 12,3 pro 1.000 Personen).
„Zusammenfassend weist die vorliegende Primärversorgungsstudie auf einen zeitlichen Zusammenhang zwischen meist mildem COVID-19 und neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes hin“, schreiben die Autoren zu ihren Ergebnissen. „Wenn das bestätigt wird, unterstützt diese Studie die potenzielle Relevanz einer aktiven Überwachung der Glukose-Dysregulation nach Genesung von leichten Formen der SARS-CoV-2-Infektion.“
Die US-amerikanischen Forscher um Al-Aly führen als Limitation ihrer Studie an, dass es sich bei ihrer Kohorte hauptsächlich um Männer handelt und die Ergebnisse daher nicht generell auf alle Gruppen übertragbar seien. Auch eine weitere Studie sieht bei Männern ein erhöhtes Risiko nach einer SARS-CoV-2-Infektion, Diabetes zu entwickeln – nicht aber bei Frauen. Allerdings handelt es sich dabei ebenfalls um eine Veteranen-Studie, daher wurden deutlich häufiger Männer erfasst.
Dagegen verhält sich das Geschlechterverhältnis in der deutschen Studie gleich. Die Ergebnisse umfassen nämlich Patientendaten von über 1.000 deutschen Arztpraxen und sind somit nicht so einseitig aufgestellt wie die beiden Veteranen-Studien. Diese Erkenntnisse decken sich auch mit den Daten des amerikanischen CDC: Die beteiligten Forscher erfassten ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von sowohl Typ-2- als auch Typ-1-Diabetes bei unter 18-Jährigen, unabhängig vom Geschlecht.
Im frühen Pandemiegeschehen befürchteten einige Forscher, dass COVID-19 auch zu steigenden Fällen von Typ-1-Diabetes führen könnten. Sie stellten die Hypothese auf, dass SARS-CoV-2 – wie andere Viren – die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse schädigen und so Typ-1-Diabetes auslösen könnte.
Die Annahmen basierten auf Berichten über Kinder und Jugendliche wie Finn Gnadt, einem 18-jährigen Studenten aus Kiel. Er infizierte sich Anfang 2020 mit SARS-CoV-2. Er nahm an, dass er die Infektion unbeschadet überstanden hätte, doch Tage später fühlte er sich übermäßig erschöpft und außerordentlich durstig. Anfang Mai wurde dann Typ-1-Diabetes bei ihm diagnostiziert. Sein Arzt, Dr. Tim Hollstein vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel, vermutete, dass der plötzliche Ausbruch mit der Virusinfektion zusammenhängen könnte.
Aktuelle Daten zu einem Zusammenhang von SARS-CoV-2 und neu auftretenden Fällen von Typ-1-Diabetes fallen jedoch gemischt aus. Mehrere Studien konnten bisher keine Hinweise finden, dass COVID-19 zu einem Anstieg von diesem Typ Diabetes bei Kindern oder Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen führte. Eine Laborstudie stellte auch die grundlegende Hypothese in Frage, dass SARS-CoV-2 pankreatische Inselzellen zerstören würde.
Weitere aktuelle Forschungsergebnisse aus Schottland bestätigen zwar eine Assoziation zwischen positiven SARS-CoV-2-Testerergebnissen und einer erhöhten Inzidenz von Typ-1-Diabetes bei unter 35-Jährigen, doch sei dies laut der Autoren nur auf den ersten Monat der Infektion beschränkt. Dieser Zusammenhang sei dabei eher durch das vermehrte Testen auf COVID-19 bei Personen um die Zeit der Diabetesdiagnose herum erklärbar, die es ohnehin bereits entwickeln, vermuten die Autoren. Als Argument für ihre Vermutung führen sie den Zeitraum von knapp einem Monat nach der Infektion auf, in denen Symptome von Typ-1-Diabetes auftreten – Betroffene könnten somit zum Infektionszeitpunkt bereits einen Diabetes entwickelt haben. Außerdem konnten die schottischen Forscher keine Assoziation zwischen Impfstatus und Diabetesentwicklung entdecken, was ihre Argumentation bestärke.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass andere Ursachen als die COVID-19-Infektion selbst in Bezug auf die erhöhte Inzidenz von Typ-1-Diabetes in Betracht gezogen werden müssen“, sagt Co-Erstautor Prof. Paul McKeigue von Public Health Scotland und der University of Edinburgh. „Wir müssen berücksichtigen, was in Bezug auf die Ausbreitung von Viren wie Enteroviren während der Pandemie passiert ist und ob es andere Umweltfaktoren wie Sonneneinstrahlung und Vitamin-D-Spiegel gibt, die sich möglicherweise während des Lockdowns verändert haben und ebenfalls relevant sein könnten.”
Bildquelle: Vadim Bogulov, unsplash.