Das Virus H5N1 macht Forschern aktuell Sorgen: Anders als sonst kursiert es ganzjährig und scheint problemlos auf andere Vogelarten überzugehen. Das ist eine Katastrophe für viele Wildvogelbestände – und könnte auch dem Menschen gefährlich werden.
Ein hochansteckender und tödlicher Stamm des Vogelgrippevirus H5N1 infiziert zur Zeit Millionen von Wild- und Ziervögeln, aber auch Nutzgeflügel in Europa, Asien, Afrika und Nordamerika. Besonders besorgt sind Wissenschaftler über die starke Ausbreitung bei Wildvögeln. Die Ausbrüche stellen ein erhebliches Risiko für bereits gefährdete Arten dar, sind schwer einzudämmen und erhöhen die Gefahr, dass das Virus auf den Menschen übergeht.
Seit letztem Herbst hat H5N1 zu fast 3.000 Ausbrüchen bei Geflügel in Dutzenden von Ländern geführt. Mehr als 77 Millionen Vögel mussten gekeult werden, um die Ausbreitung in Nutzgeflügelhaltungen einzudämmen. Allein in den USA wurden über 37 Millionen Hühner gekeult – in der Hoffnung, hierdurch die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Schätzungsweise 400.000 Wildvögel sind außerdem bei weiteren 2.600 Ausbrüchen verendet – doppelt so viele wie bei den letzten großen Wellen in den Jahren 2016/17 und 2021. Ein regelrechtes Massensterben setzte in vielen Kolonien weltweit ein. Forschern zufolge scheint sich das Virus bei Wildvögeln leichter als je zuvor zu verbreiten, was die Eindämmung von Ausbrüchen besonders schwierig mache.
Im Gegensatz zu früheren Wellen hielten die Ausbrüche in den letzten beiden Jahren in Europa auch im Sommer an. Das deutet Fachleuten zufolge darauf hin, dass die aviäre Influenza, auch Vogelgrippe oder Geflügelpest genannt, in europäischen Wildvogelbeständen inzwischen endemisch sein könnte. „Es ist äußerst besorgniserregend, dass der aktive H5N1-Stamm das ganze Jahr über bei vielen Arten vorkommt und offenbar in der Lage ist, schnell von einer Art zur anderen zu wechseln“, erklärt Willem Van den Bossche von der großen internationalen Vogelschutz-Organisation BirdLife. „Diese Veränderung deutet darauf hin, dass sich die Infektion von Zugvögeln auf Wildvögel verlagert, die in Europa und den USA ansässig sind oder sich im Sommer dort aufhalten, einschließlich derer, die in Kolonien brüten.“
Seit April 2022 sind die Ausbrüche der Geflügelpest in Deutschland wieder rückläufig. Dennoch kam es seit Mai 2022 zu Ausbrüchen in Schleswig- Holstein und Niedersachsen. Dabei waren vor allem Gänsehaltungen in Freilandhaltung aber auch Legehennenhaltungen und Kleinsthaltungen betroffen. Der letzte Ausbruch wurde am 23.08.2022 in einem Putenmastbestand in Niedersachsen registriert. Seit Juni 2022 wurden in Deutschland auch über 200 Wildvögel positiv auf HPAI-Viren (hochpathogene aviäre Influenza A-Viren) untersucht. Dabei waren Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein betroffen. Vornehmlich wurde das Virus in Seeschwalben, Tölpeln und Möwenvögeln nachgewiesen, Greifvögel sowie Enten und Gänse waren ebenfalls betroffen.
Geflügelhalter, insbesondere mit Freilandhaltungen und Offenstallsystemen sind angehalten, ihre Geflügelbestände vor einem Eintrag des Virus zu schützen. Kontakt zu Wildvögeln oder deren Ausscheidungen muss unbedingt vermieden werden. Steigende Geflügelverluste oder deutliche Veränderungen in der Legeleistung oder Gewichtszunahme sollten schnellstmöglich durch einen Tierarzt abgeklärt werden. Dabei sollte auch immer auf Influenza A-Viren der Subtypen H5 und H7 untersucht werden.
Obwohl sich auch der Mensch mit dem Virus anstecken kann, sind humane Infektionen bisher eher selten. Bis zum 18. August 2022 wurden weltweit immerhin 864 humane Infektionen mit H5N1 aus 18 Ländern gemeldet. Von diesen Fällen verliefen 456 tödlich. Der letzte Infektionsfall wurde im April 2022 aus den USA gemeldet. Wissenschaftler sind besorgt, weil die hohen Virusmengen, die in den Vogelpopulationen zirkulieren, mehr Möglichkeiten für ein Übergreifen auf den Menschen bieten.
Vogelgrippeviren verändern sich im Laufe der Zeit nur langsam, aber die ausschlaggebende Mutation könnte sie für Menschen und andere Spezies übertragbar machen, so Ian Barr, stellvertretender Direktor des mit der WHO kooperierenden Influenza-Zentrums am Doherty Institute in Melbourne, Australien. „Diese Viren sind wie tickende Zeitbomben“, erklärt er. „Gelegentliche Infektionen sind kein Problem – der eigentliche Knackpunkt ist die allmähliche Zunahme an neuen Eigenschaften.“
Auf der Virushülle des Influenza-A-Virus befinden sich zwei Glykoproteine, Hämagglutinin (H) und Neuraminidase (N), von denen es jeweils 18 bzw. 11 verschiedene Subtypen gibt. Sie treten in verschiedenen Kombinationen auf und definieren das Virus und seine Eigenschaften. Mitte der 2000er Jahre war das H5N1-Virus bei Vögeln schon einmal recht verbreitet. Nach 2008 zirkulierte es dann im kleinen Maßstab in einigen Ländern, in denen es endemisch wurde. Im Jahr 2014 kam es zu einer Evolution des Hämagglutinin-Gens, es entstand eine neue Linie – 2.3.4.4. Diese Veränderung ermöglichte es dem Virus, Wildvögel zu infizieren, ohne dass sie zwangsläufig daran starben – in der Folge kam es zu einer massiven weltweiten Verbreitung.
Auch das N-Protein veränderte sich, H5N8 setzte sich gegen H5N1 durch und wurde zum weltweit dominierenden Stamm. Weitere Varianten, H5N6- und H5N2 traten immer wieder auf, zusammengefasst wurden sie oft unter der Bezeichnung H5Nx. Nun tauchte Mitte letzten Jahres H5N1 wieder auf – und die Meldungen von Infektionen bei Geflügel und Wildvögeln schnellten in die Höhe. Laut Ian Barr unterscheidet das aktuelle Virus sich von seinem Vorgänger aus dem Jahr 2000 insofern, dass die Zahl der infizierten Vögel, vor allem bei den verschiedenen Wildvogelarten, dieses Mal deutlich höher sei. Der Experte für Influenzaviren spekuliert, dass sich das aktuelle Virus stärker replizieren könnte oder vielleicht andere Gewebe infiziere.
Einzelne Ansteckungen von Menschen gab es in der Vergangenheit hauptächlich in China unter Arbeitern, die vermehrt mit Geflügel in Kontakt standen – eine Übertragung von Mensch zu Mensch blieb bisher aus. Besonders gut sei das Virus immernoch auf den Vogel eingestellt, so Barr, besorgniserregend sei in letzter Zeit aber die Zunahme von menschlichen H5N6-Fällen in China. Im Jahr 2021 wurden dort 33 Fälle und 11 Todesopfer gemeldet, bis März 2022 kamen weitere 17 Fälle mit mindestens fünf Todesopfern hinzu. Diese in letzter Zeit gestiegenen Zahlen könnten zwar auf die verstärkte Überwachung von Atemwegserkrankungen und Lungenentzündungen während der Covid-Pandemie zurückzuführen sein, die Situation müsse aber genau beobachtet werden, so Barr.
Zwischen 2013 und 2017 gab es einen Stamm namens H7N9, der in China zirkulierte und über den sich Fachleute damals große Sorgen machten, weil er zu Hunderten von Infektionen beim Menschen führte. Heute verursacht dieses Virus keine menschlichen Fälle mehr und wird auch bei Geflügel nicht mehr so häufig gemeldet. Das ist einer sehr wirksamen Geflügel-Impfkampagne in ganz China mit einem kombinierten H5- und H7-Influenza-Impfstoff zu verdanken. Bisher wurde die Impfung in Europa und den USA kritisch gesehen. Angesichts der Verzweiflung von Geflügelhaltern, die ganze Bestände keulen lassen mussten, haben nun Frankreich, die Niederlande und andere stark betroffene Länder die Forschung zu Impfstoffen wieder aufgenommen. Niederländische Wissenschaftler haben bereits mit Versuchen zu Hühnerimpfstoffen begonnen, in Frankreich begannen Forscher damit, Enten mit einem neu entwickelten Impfstoff zu immunisieren. Im Oktober wollen die Beteiligten mit der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) erörtern, wie internationale Hindernisse für den Transport von geimpftem Geflügel abgebaut werden können.
Bisher lehnen viele Länder Lieferungen von geimpftem Geflügel ab, weil sie nicht sicher gehen können, dass impfende Länder das Virus wirklich unter Kontrolle haben. Experten befürchten außerdem, dass die Impfung die Verbreitung nicht vollständig stoppen kann, sodass das langfristige Risiko von einer Übertragung auf den Menschen möglicherweise steigt. Außerdem wäre die Entwicklung und flächenhafte Verabreichung der Impfstoffe sehr teuer.Die USA haben den Einsatz von Impfstoffen gegen die Vogelgrippe wegen der Auswirkungen auf den Handel bisher nicht genehmigt und setzen auf groß angelegte Keulungen, um den derzeitigen Ausbruch zu stoppen.
Einige Forscher befürchten aber, dass das H5N1-Virus, wenn nicht sorgfältig geimpft würde, weiter bestehen bliebe und sich mit Stämmen von Wildvögeln vermische. Dann bestehe die Gefahr, dass es sich auch unter Menschen verbreite. Das Risiko für die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sei zwar gering, aber wahrscheinlich das höchste seit dem Auftreten von H5N1 vor 25 Jahren, sagt US-Virologe Richard Webby in Science.
Impfstoffe gibt es bereits: Das Vakzin Volvac® B.E.S.T. wird von Boehringer Ingelheim hergestellt und kommt bereits in außereuropäischen Ländern, wie Mexiko und Ägypten, zur Immunisierung von Hühnern gegen die Newcastle-Disease und H5N1 zum Einsatz. Der andere und erste mRNA-Impfstoff, der derzeit bei Geflügel getestet wird, wurde von Ceva speziell für Enten entwickelt. Die Ergebnisse könnten bis Ende des Jahres vorliegen – aber damit wäre es nicht getan. Nachdem Landwirte ihre Bestände geimpft hätten, müssten sie auch sicherstellen, dass das Virus nicht unbemerkt in den Tieren zirkuliert, die nicht geimpft wurden oder nicht vollständig auf den Impfstoff reagiert haben. Mittels regelmäßiger Abstriche müsste auf das Virus getestet werden. Maßnahmen wie diese können das Risiko einer Übertragung auf den Menschen oder wildlebende Arten verringern.
Denn einen anderen Schutz für Menschen gibt es zur Zeit nicht. „Impfstoffe gegen Vogelgrippe lösen beim Menschen traditionell keine wirklich guten und starken Immunreaktionen aus“, sagt Influenza-Experte Ian Barr. „Wir haben noch keine mRNA-Impfstoffe mit diesen Viren ausprobiert; wir wissen, dass sie bis zu einem gewissen Grad funktionieren, aber wie gut sie funktionieren und welchen Schutz sie bewirken würden, ist noch offen.“
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