SCHWARZBUCH | Aus Herrn K.s Zimmer tönt heute oft die Notfallklingel – er fühlt sich einsam. Als der Dienst stressig wird, vertröste ich ihn auf später. Beim nächsten Klingeln hab ich dann aber doch ein ungutes Gefühl.
Um zu zeigen, dass die Versorgung in deutschen Krankenhäusern flächendeckend an ihre Grenzen gekommen ist, wurde das Projekt Schwarzbuch Krankenhaus ins Leben gerufen. Auf der Internetseite schreiben die Initiatoren: „Wir, Arbeitende im Gesundheitssystem, berichten von Überlastung und Patientengefährdung im Arbeitsalltag. Die folgenden Erfahrungsberichte zeigen, wie die Gesundheitsversorgung in Deutschland wirklich ist.“
Wir bilden einen Teil der Erzählungen in leicht gekürzter Form auf DocCheck ab. Zu den Originaltexten und allen weiteren Berichten kommt ihr hier.
Eine Pflegekraft mit 42 Jahren Erfahrung im Krankenhaus berichtet von ihrem Arbeitsalltag, der manchmal kaum noch zu managen ist: „Eigentlich hörte sich die Übergabe vom Früh- zum Spätdienst relativ normal an und so wollte ich meinen üblichen Gang mit Begrüßung der Patienten und gleichzeitiger Verteilung der intravenösen Antibiosen beginnen.“
Ein normaler Spätdienst, das heiße meist die alleinige Versorgung von 18 Patienten – Pflegefälle, Neuaufnahmen, Isolierungszimmer, Monitorüberwachung, Visitenausarbeitung mit Medikamentenänderungen, Fotodokumentation von Wunden, Entlassungsmanagement, Entlassungen, Begleitung Sterbender, Telefondienst, Verteilung des Abendbrotes mit Nahrungsanreichung, Abarbeiten von Patientenrufen, Angehörigengespräche, und zur Coronazeit auch noch die Kontrolle der Impfnachweise von Angehörigen. „Das ist nur ein kleiner Ausschnitt der Tätigkeiten – ohne besondere Vorkommnisse wie Reanimation, Patientenstürze, sonstige Notfälle.“ Soweit habe sie sich schon an Stress gewöhnt.
Ein Spätdienst sei ihr jedoch besonders in Erinnerung geblieben: „Zu Beginn des Spätdienstes benötigte der Stationsarzt Hilfe, da der Patient während einer Punktion dringend seine Notdurft verrichten musste. Zur gleichen Zeit brachte der Transportdienst aus der Rettungsstelle einen im Sterben liegenden Patienten mit diversen Wunden. Mir fehlte die Information über den präfinalen Zustand und es musste dringend eine Wechseldruckmatratze bestellt werden. Außerdem erfolgte eine sogenannte ‚Umschiebeaktion‘, da der Patient sonst in einem 4-Bett-Zimmer gestorben wäre.“ Besucher hätten vermehrt auf dem Stationsflur gewartet, um ihren Impfnachweis vorzuzeigen und begutachteten den noch immer auf der Trage liegenden Sterbenden. Andere Besucher, schon völlig genervt vom Warten, seinen einfach ohne Erlaubnis in die Zimmer gegangen.
„Auf dem Weg zu einer Patientin, welche die Klingel betätigte, sah ich, dass in einem Patientenzimmer ein psychiatrischer Patient total entblößt in seinen Fäkalien lag. Nicht sehr angenehm für den Mitpatienten und dessen Angehörige, die das mitbekamen!“ Die Patientin, die den Schwesternruf betätigte, habe sie hyperventilierend erwartet und ihr mitgeteilt, dass sie unbedingt einen Arzt benötige. Dieser hätte ihr gesagt, dass sie schwer krank sei und sie jetzt sterben müsse. „Leider hatte ich keine Zeit, um sie zu beruhigen und hetzte wieder zu dem Sterbenden, den ich erstmal, noch immer auf der Trage liegend, in ein Zimmer (ab)schob, um ihn von den Blicken der Neugierigen zu schützen. Kümmern konnte ich mich noch immer nicht, da plötzlich auf dem Stationsflur ein Patient mit einer Kopfplatzwunde lag.“
Sie habe gedacht: „Lieber Gott, lass nicht nun noch jemand Herzschmerzen bekommen!“ Bis zur Verteilung des Abendbrots habe sie wenigstens die intravenösen Antibiosen verteilen können, den psychiatrischen Patienten gesäubert, den Patienten mit Luftnot einigermaßen versorgt, ebenso den Patienten mit der Kopfplatzwunde. „Der Sterbende lag zumindest in seinem Bett, die Versorgung der Wunden musste später erfolgen. Die nächste Neuaufnahme stand schon auf dem Flur, erst nach der Essensverteilung erhielt er seine dringende Monitorüberwachung. Inzwischen war es bereits 19 Uhr! Zum ersten Mal an diesem Tag musste nun endlich etwas Dokumentation erfolgen, bevor die Abendbrottabletts eingesammelt und ich die abendliche Bettenrunde beginnen konnte. Während dem Anlegen der Kurven der Neuaufnahmen und Ausarbeitung von ärztlichen Anordnungen, biß ich ein paar Mal von meiner vertrockneten Stulle ab.“
Ihr Fazit: „Wer mitgezählt hat, dem fällt auf, dass ich in meinem Bericht lediglich von 6 Patienten berichtet habe. Ab 20 Uhr war ich dann bemüht, den Bedürfnissen der restlichen 12 Patienten nachzukommen.“ Spätdienste wie dieser seien schon lange keine Ausnahme, sondern inzwischen Normalzustand.
Ein Bericht aus einer anderen Klinik: Sonntag Morgen, auf einer onkologischen Station. „Wir waren vier Pflegekräfte, eine Servicekraft und ein Dienstarzt, die für insgesamt 44 Patientinnen und Patienten zuständig waren.“ Den ganzen Morgen über sei es schon sehr wuselig gewesen, an Frühstück sei wie immer nicht zu denken gewesen. „Viele Blutentnahmen, Chemotherapien, die zeitgenau angehängt werden mussten, zwei junge Patientinnen in hochpalliativen Situationen. Zwei Patientinnen, die in fast allen alltäglichen Aktivitäten auf Hilfe angewiesen waren. Ein Patient, der aufgrund seines Tumors des Zentralnervensystems schon alleine eine Pflegekraft für sich benötigt hätte. All diese Patienten befanden sich in der Gruppe von elf Menschen, für die ich zuständig war.“
Herr K., ein 60-jähriger Patient, der am Vortag mit blutigem Auswurf und schlechten Blutwerten sowie Fieber aus einem anderen Krankenhaus übernommen worden sei, hatte während des Rundgangs immer wieder geklingelt. Er sei sehr unruhig gewesen und hätte nervös gewirkt.
„Ich war zum Messen der Vitalzeichen während meiner Morgenrunde bei ihm gewesen, hatte ihm Blut abgenommen und ein Antibiotikum verabreicht. Wir hatten ein paar Sätze gewechselt, die Vitalzeichen waren unauffällig, das Fieber gesunken. Ich merkte, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Er erzählte von seiner Familie und seinen Sorgen und irgendwann sagte ich ihm, dass ich weiter müsse. Er hatte mich mit großen Augen angeschaut, geschwiegen und mich weiterziehen lassen.“
Während der folgenden Stunde habe er immer wieder geklingelt. „Irgendwann wurde ich ungeduldig und sagte ihm, er müsse wirklich damit aufhören, ich würde später, sobald es mir möglich sei, wieder nach ihm sehen und mir Zeit für ihn nehmen.“
„Nachdem ich noch schnell zwei Chemotherapien angehängt und in einem anderen Zimmer einem Morphin-Perfusor gewechselt hatte und eben kurz nach einer der palliativen Patientinnen geschaut hatte, entschied ich mich zu einer Patientin zu gehen, die im Bad Hilfe benötigte und die ich außerdem, wegen zunehmender Ödeme, noch auf die Waage begleiten musste. Als ich der Patientin half sich an die Bettkante zu mobilisieren, klingelte Herr K. erneut. Ich atmete einmal tief durch und überlegte, ob ich sein Klingeln ignorieren sollte, um erst einmal der Patientin ins Bad zu helfen – entschied mich aber zum Glück dagegen. Ich vertröstete die ältere Dame und versprach ihr, gleich wieder bei ihr zu sein.“
Die Pflegekraft lief ins Zimmer von Herrn K. zurück. „Ich wollte gerade ausholen und ihm klar machen, dass ich wirklich viel zu tun hatte, da sah ich ihn mit weit geöffneten Augen, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet, das Gesicht mit Schweißperlen bedeckt, der Körper reglos und ohne Atmung, in seinem Bett liegen. Er war klinisch tot. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.“
Die Entscheidung, zurück zu Herrn K. zu gehen, war richtig. „Ich möchte mir bis heute nicht vorstellen, wie die Geschichte ausgegangen wäre, hätte ich mich erst noch um die andere Patientin gekümmert. Oder hätte Herr K. an diesem Morgen nicht noch einmal die Klingel gedrückt, dann nämlich wäre ich sicher erst zwei oder drei Stunden später wieder in sein Zimmer gekommen. Zu einem Patienten, dem wir nicht mehr hätten helfen können. Wir reanimierten Herrn K. erfolgreich; er lag nur drei Nächte auf Intensivstation und kam mit einem Herzschrittmacher zurück zu uns auf Station. Nach 14 Tagen konnte er nach Hause entlassen werden.“
Wenn auch ihr von Missständen in eurer Klinik berichten wollt, könnt ihr euch hier an Schwarzbuch Krankenhaus wenden.
Bildquelle: Luís Perdigão, unsplash.