Die Lobotomie ist wohl die bekannteste psychiatrische Behandlung der Geschichte. Ihr Erfinder wurde sogar mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet. Bis die Wissenschaft aufhörte und der Horror begann.
Um keine andere Operation ranken sich so viele Mythen, keine andere Behandlung ist Ursprung von mehr fiktionalen Horrorgeschichten – die Rede ist von der Lobotomie. Aber was steckt dahinter? Und wie kam es überhaupt zu der Behandlung, auf die heute mit großer Skepsis zurückgeblickt wird?
Damals wie heute ist die Psyche des Menschen ein viel beforschtes Gebiet. Und ebenfalls gibt es – damals wie heute – viele Bereiche der psychiatrischen Forschung und der Gehirnentwicklung, die immer noch Fragen aufwerfen. Oftmals sind psychische Erkrankungen auf eine reine Symptombehandlung beschränkt, während sich Grundlagenforschung und Behandlung häufig schwierig gestalten. Was also blieb damals, wenn man heutige Psychopharmaka und Therapien aus der Gleichung streicht? Patienten, die mit experimentellen und teils gefährlichen Behandlungsmethoden den Versuch einer Heilung über sich ergehen lassen mussten – durch Insulin-Komas, Elektroschocks und auch die Lobotomie.
Die Lobotomie, damals in Europa als Leukotomie bekannt, war Egas Moniz und Almeida Limas Versuch, eine Vielzahl psychischer Störungen durch einen vermeintlich einfachen operativen Eingriff deutlich zu bessern – wenn nicht gar zu heilen. Die Lobotomie wurde ab 1936 als Therapie gegen behandlungsresistente Depression, Schizophrenie und eine Reihe an Persönlichkeitsstörungen eingesetzt.
Bei der ursprünglichen Form der Lobotomie wurden zwei Löcher in den Schädel gebohrt: entweder an der Seite oder oben, um anschließend mit einem scharfen Instrument – dem Leukotom – ins Gehirn einzudringen. Der Arzt strich damit dann von einer Seite zur anderen, um die Verbindung zwischen Frontallappen und dem restlichen Gehirn zu trennen.
(a) Die Schnittführung und der Knochentrepanationsknopf, der am Ende der Operation entfernt und wieder eingesetzt wird. (b) Die Ebene der Leukotomie wird gezeigt, wie sie mit dem elektrochirurgischen Saugapparat unter direkter Sicht mit Hilfe eines beleuchteten Hirnretraktors durchgeführt wird. Credit: Technic of Prefrontal Lobotomy, James L. Poppen, 1948.
Bei der Lobotomie wurde also ein Teil des Frontalhirns dauerhaft geschädigt. Man dachte, dass die Neuronen von psychiatrisch auffälligen Patienten falsch verkabelt waren und man mit Entfernung dieser falschen Verbindungen eine Linderung der Symptome erzielen könne.
Die Operation schien ein voller Erfolg zu sein. Moniz verzeichnete jedenfalls drastische Verbesserungen der Symptome bei den ersten 20 Patienten. Dieser Erfolg sollte aber nicht lange sein alleiniger bleiben. Schnell wurde die Lobotomie zum vermeintlichen Wunderheilmittel vieler bis dato als unheilbar geltenden Diagnosen. Alleine in Großbritannien wurden zur Hochzeit der Behandlung über 1.000 Lobotomien pro Jahr durchgeführt.
Am Ende war es ein Neurologie-Professor, der die Lobotomie perfektionierte. Walter Freeman machte die transorbitale Lobotomie salonfähig. Dabei wird ein eispickelähnliches Werkzeug in die Augenhöhle eingeführt. Sobald ein Widerstand erreicht wird, die dünne Lamina cribrosa, wird mit ein paar leichten Hammerschlägen das Werkzeug in das Gehirn geschlagen. Dieser Vorgang wiederholt sich auf der anderen Seite. Anschließend werden beide Werkzeuge in bestimmten Winkeln hin- und herbewegt, um Nerven- und Hirngewebe zu zerstören.
1946 wurde also die erste Lobotomie durchs Auge durchgeführt – in Freemans Büro, ohne Hygienemaßnahmen, ohne chirurgische Ausbildung. Bereits damals sahen seine Kollegen die Eingriffe kritisch. So schrieb der damals angesehene Neurophysiologe John Farquhar Fulton an Friedman: „Was sind das für furchtbare Geschichten, dass Sie in ihrem Büro Lobotomien mit einem Eispickel vornehmen? Warum nehmen Sie keine Schrotflinte? Das ginge schneller!“
Die Beliebtheit der Lobotomie erreichte ihren Höhepunkt Ende der 40er Jahre. Moniz erhielt 1949 den Nobelpreis der Medizin für sein damals höchst innovatives Verfahren. Der Lobotomie-Euphorie wurde aber bereits drei Jahre später Einhalt geboten. Chlorpromazin, das erste Neuroleptikum und damit das erste wirksame Medikament gegen Schizophrenie, kam auf den Markt. „Chemische Lobotomie“ – so wurde das Medikament damals genannt. Die klassische Lobotomie hatte ihren Zenit überschritten.
Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Die Alternativen waren schlimmer. Es gab keine wirksamen Medikamente und Psychiater waren verzweifelt auf der Suche nach einer Lösung. „Wenn ich psychiatrische Kliniken besuchte, sah ich Zwangsjacken, gepolsterte Zellen, und es war offensichtlich, dass einige der Patienten, so leid es mir tut, körperlicher Gewalt ausgesetzt waren“, erinnert sich der pensionierte Neurochirurg Jason Brice. „Wir hofften, dass sie [die Lobotomie] einen Ausweg bieten würde“, sagt Brice. „Wir hofften, es würde helfen.“
Neben den nicht vorhandenen Therapiemöglichkeiten gab es zudem, auch den Weltkriegen geschuldet, immer mehr Patienten mit psychischen Störungen. Viele Patienten, die lange Zeit in Psychiatrien verbrachten, verstarben an Infektionskrankheiten, Tuberkulose oder wurden apathisch – deswegen wurde ein Verfahren, das zu einer schnellen Entlassung der Patienten führte, sehnlichst erwartet.
Wegen schlechter Langzeitergebnisse und der Einführung erster wirksamer Neuroleptika, sank auch das Interesse an der Lobotomie. Eine Studie untersuchte 1961 alle in England und Wales lobotomierten Patienten im Zeitraum von 1942-1954. Das waren insgesamt 10.365 Einzeloperationen, 762 Patienten wurden sogar mehrfach operiert. Eine Follow-Up-Studie mit 9.284 Patienten ergab: 41 % der Patienten erholten sich oder zeigten eindeutige Besserung, 28 % der Patienten zeigten minimale Besserung, 25 % der Patienten zeigten keine Veränderung, 2 % zeigten eine Verschlimmerung und 4 % der Patienten verstarben.
Doch diese Ergebnisse hatten einen hohen Preis. Dr. Henry Marsh, heute einer der wichtigsten britischen Neurochirurgen, arbeitete lange Zeit als psychiatrischer Krankenpfleger und erinnert sich: „Sie [die Lobotomie] spiegelt eine sehr schlechte Medizin, eine schlechte Wissenschaft wider, denn es war klar, dass die Patienten, die diesem Verfahren unterzogen wurden, nie richtig nachuntersucht wurden. Wenn man die Patienten nach der Operation sah, schienen sie in Ordnung zu sein, sie gingen und sprachen und bedankten sich beim Arzt“, erklärt er. „Die Tatsache, dass sie als soziale Menschen völlig ruiniert waren, zählte wahrscheinlich nicht.“
Die negativen Effekte der Lobotomie wurden bereits früh beobachtet. Sie bekamen allerdings zunächst keine Aufmerksamkeit, konnten doch die Hauptsymptome der behandelten Krankheit reduziert werden – trotz schwerwiegender Nebenwirkungen galten die Patienten als gebessert. Dagegen beschreibt J. L. Hoffman in einer Beobachtungsstudie von 1949: „Diese Patienten sind nicht nur nicht mehr von ihren seelischen Konflikten geplagt, sondern scheinen auch kaum noch in der Lage zu sein, emotionale Erfahrungen zu machen, seien sie nun angenehm oder unangenehm. Sie werden von den Krankenschwestern und Ärzten immer wieder als stumpf, apathisch, lustlos, antriebs- und initiativlos, flach, lethargisch, gleichmütig und gleichgültig, kindlich, fügsam, schubbedürftig, passiv, ohne Spontaneität, ziel- und zwecklos, zerstreut und abhängig beschrieben.“
Dr. Bengt Jansson, Psychiatrie-Professor und ehemaliges Nobelpreis-Komitee-Mitglied, beschreibt in einem kritischen Artikel zum Lobotomie-Nobelpreis ebenfalls die negativen Einflüsse auf die Persönlichkeit der Patienten. So wären die Patienten zwar körperlich anwesend, ihre Seelen wären aber verloren.
Der wohl bekannteste Fall einer missglückten Lobotomie ist der von Rosemary Kennedy. Die älteste Schwester des US-Präsidenten litt unter Lernschwäche und gewaltsamen Ausbrüchen – für den ehrgeizigen Vater der Familie eine absolute Zumutung. Joseph Kennedy versuchte bereits früh, die Lernschwäche seiner Tochter zu korrigieren. Beispielsweise durch Spritzen, die das „hormonelle Ungleichgewicht“ ausgleichen sollten – ohne Erfolg. Also wurde Rosemary 1941 im Alter von 23 Jahren von Walter Freeman und James Watts lobotomiert. Nach der Operation zeigte sich: Die junge Frau hatte schwere Schäden davongetragen. Sie konnte nicht alleine Laufen, Sprechen oder simpelste Tätigkeiten ausüben. Sie wurde in einem Pflegeheim und später in einem Kloster – beide weit weg von zu Hause – untergebracht.
Ein weiteres prominentes Beispiel: Ellinor Hamsun, Tochter des Literatur-Nobelpreisträgers Knut Hamsun. Sie litt an einer Essstörung und Depression. Ihr Vater, dessen Ruf später als Nazi-Sympathisant deutlich litt, glaubte fast schon naiv an die Wunder der modernen Medizin. Er ließ 1953 eine Lobotomie bei Ellinor durchführen und das, obwohl ihre Symptome auch für damalige Verhältnisse nie so schwerwiegend waren, dass ein solch radikaler Eingriff gerechtfertigt gewesen wäre. 1956 folgte eine zweite. Zwischen den Operationen litt sie an einer vermutlich postiktalen Psychose. Nach der zweiten Operation war kein eigenständiges Leben mehr möglich. Ellinor verbrachte den Rest ihres Lebens in einem Pflegeheim, hatte weiterhin epileptische Anfälle und verlor jegliche Lebensfreude.
Die Lobotomie wurde 1950 in der Sowjetunion verboten. In Deutschland ist die Lobotomie seit den 70ern obsolet. In vielen Ländern wurde das Verfahren aber nie verboten und die Operation bis in die 80er Jahre durchgeführt. Aus der Lobotomie entwickelten sich allerdings auch heute angewandte Techniken, die weiterhin untersucht und erforscht werden.
Zur Lobotomie selbst sagt Jansson: „Die Lobotomie ist eine ethisch fragwürdige Behandlung, wenn sie gegen den Willen des Patienten durchgeführt wird. Aber bei schwer psychotischen Patienten, die keinerlei Einsicht in ihre Krankheit haben, ist dies immer eine schwierige Frage – was genau will ein solcher Patient?“ Es gebe aus historischer Perspektive durchaus Argumente, die Psychochirurgie als bahnbrechenden therapeutischen Fortschritt zu sehen. Ebenso falle es aber aus heutiger Sicht leicht, eine negative Meinung zur Lobotomie zu haben und den Nobelpreis für Moniz kritisch zu sehen. Jansson stimmt jedoch mit Swayze überein, der 1995 schrieb: „Wenn wir nichts anderes aus dieser Zeit lernen, sollten wir erkennen, dass strengere, prospektive Langzeitstudien über psychiatrische Ergebnisse unerlässlich sind, um die langfristigen Ergebnisse unserer Behandlungsmethoden zu bewerten.“
Bildquelle: Daniel Öberg, unsplash