Amygdalin, ein cyanidfreisetzendes Glykosid aus Aprikosenkernen oder bitteren Mandeln, avanciert bei Krebspatienten zum neuen Allheilmittel. Viele Internethändler vertreiben das dubiose Produkt. Behörden warnen vor riskanten Therapien – und vor Verstößen gegen geltendes Recht.
Wieder ein neues Wundermittel gegen Krebs: Kaum haben Behörden vor „Miracle Mineral Supplement“ (MMS) gewarnt, machen neue Präparate die Runde. Im Web erwerben verzweifelte Patienten Aprikosenkerne und amygdalinhaltige Präparate. Jetzt rüttelt ein ernster Zwischenfall Apotheker auf.
Zu den Details: Ärzte entfernten bei einem vierjährigen Kind ein anaplastisches Ependymom. Sechs Monate später mussten sie aufgrund von Rezidiven des Gehirntumors erneut zum Skalpell greifen – ohne Erfolg. Der Tumor metastasierte. Die Eltern des kleinen Patienten entschlossen sich zu einer ungewöhnlichen Palliativtherapie mit intravenösem Amygdalin, in Laienmedien ohne wissenschaftliche Begründung gerne „Vitamin B17“ genannt. Hinzu kamen zehn bittere Aprikosenkerne pro Tag als orale Gabe. Aus Amygdalin entstehen nach enzymatischer Spaltung im Darm Zyanide. Es kommt zur Blockade der zellulären Atmungskette. Schließlich mussten Ärzte den Jungen aufgrund einer Blausäureintoxikation mit Natriumthiosulfat als Antidot behandeln.
Trotzdem werden Patienten nicht müde, Effekte von Amygdalin („Laetrile“, „Lätril“) bei Tumorerkrankungen aller Art zu erwähnen. „Diese Aussage ist irreführend, weil die Wirkung wissenschaftlich nicht nachgewiesen ist“, stellt das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) klar. Eine Übersichtsarbeit mit 36 Studien blieb ohne Hinweis auf therapeutische Effekte. Wissenschaftler kritisieren auch den Terminus „Vitamin B17“ – die Substanz ist nicht essenziell. „Der in der Alternativmedizin propagierte selektive Wirkmechanismus von Amygdalin in der Krebstherapie ist unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht haltbar“, lautet ein Fazit des Bundesamts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). „Unter Berücksichtigung sämtlicher verfügbarer Daten kommt das BfArM zu der Bewertung, dass der Einsatz von Amygdalin am Menschen mit erheblichen Risiken behaftet ist und die Wirksamkeit in der Tumortherapie am Menschen als widerlegt gelten muss.“
Was bedeutet die Einschätzung für Apotheker? Das BfArM stuft Amygdalin im „Bulletin zur Arzneimittelsicherheit“ als „bedenkliches Arzneimittel“ im Sinne des Arzneimittelgesetzes (AMG), Paragraph 5, ein. Entsprechende Präparate dürfen nicht abgegeben werden – selbst bei ärztlicher Verordnung. Bleibt noch, Patienten vor dubiosen Internetquellen zu warnen. Jegliches Marketing verstößt gegen Paragraph 3 des Heilmittelwerbegesetztes („irreführende Werbung“).