Töten auf Verlangen, Sterbehilfe, assistierter Suizid – drei verschiedene Paar Schuhe, die für Ärzte gleichermaßen schwierig sind. Welche Probleme Onkologen im Praxisalltag sehen und wie die konkrete Umsetzung ablaufen könnte.
Das Persönlichkeitsrecht jedes Menschen umfasst auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben – so hat es das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von Februar 2020 festgehalten. Der Deutsche Ärztetag zog gut ein Jahr später nach und strich den Satz „Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ aus der ärztlichen Musterberufsordnung (wir berichteten). Patienten haben also ein Anrecht auf ärztlich assistierte Selbsttötung, aus der sich umgekehrt allerdings kein Rechtsanspruch gegenüber einem bestimmten Arzt ergibt. Denn die Delegierten hatten schon in ihrem damaligen Abschlussbericht festgehalten, dass eine individuelle Gewissensentscheidung möglich sein muss und keine berufsrechtlichen Konsequenzen haben darf.
Beim assistierten Suizid denken viele Ärzte vermutlich an sterbenskranke Patienten, die – überspitzt formuliert – ihre letzten Wochen abliegen, oft unter Schmerzen, einsam und an Geräte gebunden. Doch tatsächlich ist eine schwere Erkrankung keine Voraussetzung; Prof. Jan Schildmann, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, MLU Halle-Wittenberg, bezeichnet das als einen „gewöhnungsbedürftigen“ Gedanken für Ärzte und andere Bürger.
Es handelt sich aktuell noch um wenige Fälle – sogar für die Onko- und Hämatologen, die aktuell auf einer Pressekonferenz zum Thema über das zukünftige Vorgehen und eine gute medizinische Praxis diskutierten. Angesichts der veränderten Rechtslage sei aber mit einem Anstieg der Anfragen zu rechnen. „Eine Entwicklung wie in der Schweiz wäre möglich, das müssen wir antizipieren“, so Schildmann.
Die Wahrscheinlichkeit, dass auch deutsche Ärzte mit dem Thema in ihrem beruflichen Leben konfrontiert werden, steige. Dass sich schon jetzt mehr Patienten nach dieser Option erkundigen, zeigen zwei Umfragen, die Schildmann und Prof. Hermann Einsele, Geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), präsentierten.
Ergebnisse der DGHO-Umfrage von 2015; Credit: Jan Schildmann
Während 2015 noch 43 % der 700 befragten DGHO-Ärzte berichten, von einem Patienten auf Assistenz zur Selbsttötung angesprochen worden zu sein, sind es 2019 bereits über 57 %.
Ergebnisse der DGHO-Umfrage 2019; Credit: Jan Schilmann
Parallel steige auch die Zahl der Krebspatienten, so Einsele; in den USA seien onkologische Erkrankungen schon die führende Todesursache. Deutschland und die EU würden bald nachziehen, prophezeit der DGHO-Vorsitzende – gerade deswegen sei das Thema ärztlich assistierter Suizid so relevant für die Fachgesellschaft.
Denn, das bestätigt beispielsweise Dr. Carsten-Oliver Schulz mit Erfahrungsberichten aus dem ambulanten Bereich in Berlin, für viele Patienten kommt der Gedanke an Suizid oft mit der Krebsdiagnose. „Es gibt Wegmarken im Leben eines Patienten, an denen dieser Wunsch entsteht. Das ist eine extrem subjektive Geschichte“, meint Schulz. Man müsse Betroffene als Team aus verschiedenen medizinischen Bereichen gemeinsam auffangen, sei es nun direkt nach Erstdiagnose oder beim Rückschlag eines Rezidivs.
Für die Palliativmedizin gelte das ebenso, wobei Berlin hier besonders gut ausgestattet sei, auch in Sachen psychosoziale Betreuung. Schulz machte auch auf die wichtige Unterscheidung zwischen ärztlich assistiertem Suizid und indirekter bzw. passiver Sterbehilfe aufmerksam. Bei letzterer handelt es sich um die palliative Sedierung, die viele Patienten und Angehörige als selbstverständlich wahrnehmen. Diese Gabe hochdosierter Schmerz- und Beruhigungsmittel kurz vor Tod des Patienten sei in jedem Fall von einer assistierten Selbsttötung abzugrenzen.
Als wichtigster Punkt für alle Teilnehmer klang immer wieder der Wunsch und auch die Notwendigkeit eines rechtlichen Rahmens an. Dass der aber knifflig zu gestalten ist, machte Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) in einer kurzen Stippvisite deutlich. Sie hat einen von insgesamt drei Gesetzentwürfen auf den Weg gebracht, die es derzeit zum Thema gibt. Ihr Vorschlag: Bei Suizidwunsch eines erkrankten Patienten muss der Arzt zunächst die Freiwilligkeit des Patienten bestätigen und kann dann beraten, welche Möglichkeiten sich bieten. Er sollte dabei auch über palliativmedizinische Alternativen informieren, darf aber im weiteren Verlauf bei der Selbsttötung helfen. Ein unabhängiger Arzt bringt seine Zweitmeinung ein und muss ebenfalls die freie Entscheidung des Patienten feststellen, beide Ärzte sind zur Dokumentation verpflichtet.
Handelt es sich allerdings um einen Patienten, der „lebenssatt“ ist und bei dem kein medizinischer Notfall vorliegt, soll es zwei Beratungsgespräche im Abstand von zwei Monaten geben und ein Rezept über ein entsprechendes Mittel, falls aus ärztlicher Perspektive nichts dagegenspricht.
Und hier geht es schon los: Wo und wie findet der Suizid dieser Personen statt? Verschreibt der Arzt ein Medikament (Pentobarbital gilt hier als Mittel der Wahl), was der Patient sich in der Apotheke abholt? Dann müsste auch das Betäubungsmittelgesetz angepasst werden. Aber was wäre zum Beispiel, wenn der Patient seinen Suizidwunsch doch revidiert? Die Teilnehmer der Konferenz gaben weitere Beispiele, die problematisch sind:
Zumindest beim letzten Punkt ist offenbar vorgesorgt. Schildmann dazu: „Es scheint sehr klar zu sein, dass Betreute nicht in die Gruppe für assistierte Suizide eingeschlossen werden sollen. Das ist ein klarer Gegensatz zur palliativen Sedierung, wo auch ohne Selbstentscheid der Patienten gehandelt werden kann.“ Künast gab zu bedenken, dass es viele solcher Lücken geben werde, man das im Gesetz aber aushalten und dem großen Ganzen einen rechtlichen Rahmen geben müsse. Umso wichtiger ist also die praktische Umsetzung der Ärzte, sind sich die Diskutierenden einig. Künast hofft auf eine Entscheidung bis spätestens Anfang kommenden Jahres, um „Klarheit, Transparenz und Schutz für alle Beteiligten“ zu schaffen.
Hier wurde auch der Punkt Patienteninformation angebracht. Schildmann verglich die ethischen Bedenken der „Werbung“ für entsprechende medizinische Angebote mit der Diskussion um das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Und tatsächlich fällt die Entscheidung für oder gegen ein Informieren der Patienten recht knapp aus.
Ergebnisse der DGHO-Umfrage 2019; Credit: Jan Schildmann
Die große Bedeutung rechtlicher Leitplanken wurde erneut deutlich, als Schildmann die Ergebnisse zur Frage, in welcher Form denn überhaupt informieren werden dürfte, präsentierte. Ein Großteil der Ärzte wünscht sich ein Regelwerk, Unterbindung von Werbung und einen Hinweis auf Angebote zur Suizidprävention.
Wichtig sei auch, dass nicht an den Angehörigen vorbei entschieden wird, wenn es welche gibt. „Wir müssen das enge Umfeld in diese Entscheidung miteinbeziehen. Alles andere hätte vielleicht auch juristische Implikationen, auf jeden Fall aber psychologische Folgen für das weitere Familienleben, das darf man nicht unterschätzen“, so Einsele. Die Betreuung der Angehörigen solle Teil des Beratungsangebots werden und wie Pflegeonkologen, Schmerztherapeuten und Palliativmediziner ein unterstützendes Netzwerk für Patienten bieten. „Eventuell ist der Wunsch dann gar nicht mehr relevant und falls doch, kann die Entscheidung für alle leichter fallen“, sagt Einsele.
Prof. Maike de Wit, Vorstands-Mitglied der DGHO, brachte einen Vergleich mit den Niederlanden ins Spiel. Dort habe das Töten auf Verlangen sich anders ausgebreitet, als ursprünglich vorgesehen. „Wir sollten ein wachsames Auge darauf haben, wie es sich gesellschaftlich entwickelt“, meint sie im Hinblick auf die aktuelle Lage in Deutschland. In den Niederlanden bestehe ein deutlicher Unterschied zwischen Praxis und Rechtsrahmen – so werde auch die Tötung nicht einwilligungsfähiger Patienten, wie Neugeborenen oder Dementen, praktiziert. Schildmann mahnte: „In Deutschland müssen wir das mit Blick auf die Geschichte und das Missbrauchspotenzial besonders beobachten. Die Tötung auf Verlangen und der ärztlich assistierte Suizid müssen auseinandergehalten werden.“
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