Rund 100 Millionen Euro stecken die gesetzlichen Krankenversicherungen jährlich in orthopädische Schuhe und Einlagen – obwohl sie manchmal mehr schaden als nützen. Wann ist das der Fall? Wir haben nachgefragt.
Schuheinlagen sind das medizinische Hilfsmittel mit der höchsten Versorgungsprävalenz und den höchsten Hilfsmittelausgaben. Rund 100 Millionen Euro stecken die gesetzlichen Krankenversicherungen in orthopädische Schuhe und Einlagen. Gesamtheitlich betrachtet, ist der Hilfs- und Heilmittelmarkt in Deutschland der viertgrößte Kostenpunkt der GKV, Tendenz steigend. Bei so einem großen Brocken Geld muss doch auch viel dahinter sein. Aber sind Einlagen wirklich so vielversprechend oder werden sie inflationär und unnötigerweise verschrieben? Hier scheiden sich – wie so oft in der Orthopädie – die Geister.
Es gibt Schuheinlagen in vielen Formen und Varianten, aus unterschiedlichen Materialien und natürlich für verschiedene Verwendungszwecke, z.B. als therapeutische Unterstützung bei Gleichgewichtsstörungen und Gangunsicherheiten im Alter oder der Einsatz angepasster Einlagen beim Diabetischen Fußsyndrom. Studien bestätigen, dass Schuheinlagen beispielsweise den Plantardruck beim Diabetischen Fußsyndrom erheblich reduzieren können. Auch das verwendete Material spielt Untersuchungen zufolge eine große Rolle bei der Wahl der richtigen Einlage.
Schuheinlagen haben also in vielen Einsatzbereichen eine absolute Berechtigung. Nicht nur, wenn es um krankheitsbedingte Fußveränderungen geht, sondern auch bei einigen Fußfehlstellungen zum Versuch der Korrektur – und zwar immer dann, wenn krankhafte Fehlstellungen ein normales und schmerzfreies Gehen unmöglich machen.
„Das ist beispielsweise bei angeborenen Behinderungen, wie infantiler Zerebralparese oder Spina bifida, der Fall. Einlagen können aber auch nach Infektionen wie Poliomyelitis gebraucht werden“, erklärt Dr. Jürgen Kosel, Facharzt für Orthopädie und Autor von Orthopädie verstehen! Wissen für Patienten und Therapeuten im Gespräch mit den DocCheck News. „Auch nach Unfällen mit Knochen- oder Gelenkfehlstellungen, Achsenfehlstellungen oder Bandinstabilitäten können Einlagen unterstützende und stabilisierende Funktionen übernehmen.“ Auch Gehschwierigkeiten durch erworbene Zehenfehlstellungen wie Hallux valgus oder einen plantaren Fersensporn können durch angepasste Einlagen gut behandelt werden.
Wenn es so viele berechtigte Einsatzmöglichkeiten für orthopädische Einlagen gibt, dann ist der Fall doch klar und die Schuheinlage von ihrer Anklage befreit, oder? So einfach gestaltet sich die Thematik nicht. Denn Schuheinlagen werden trotz ihrer berechtigten Einsatzgebiete viel zu häufig verschrieben – vor allem bei vermeintlichen kindlichen Fußfehlstellungen. Das kann zum Problem werden.
Das sieht auch Kosel so: „Grundsätzlich müssen natürliche Fußformen und deren Entwicklungen, besonders bis zum 8. Lebensjahr, von behandlungsbedürftigen Fußfehlstellungen unterschieden werden. Der kindliche Knick-Senkfuß ist als normal anzusehen.“ Viele Eltern wissen, dass ein Knick-Senkfuß im Erwachsenenalter behandelt werden muss – und schlagen Alarm. „Mit dieser Erwartungshaltung der Eltern werden wir Orthopäden dann konfrontiert. Oftmals geben Kollegen den Eltern nach und verschreiben dementsprechend Einlagen. Bleiben wir aber standhaft und verordnen keine Einlagen, besuchen die Eltern mit ihrem Kind einfach den nächsten Orthopäden und den übernächsten, bis die Einlagen verschrieben werden.“
Das ist ein ernstzunehmendes Problem, denn obwohl Einlagen die Fußwölbung unterstützen, schwächen sie gleichzeitig Muskulatur, sodass diese sich nicht voll entwickeln kann. Diese Muskulatur ist wiederum wichtig, um die natürliche Entwicklung einer gesunden Fußwölbung sicherzustellen. „Bis zum 6. Lebensjahr müssen und sollen Knick-Senkfüße nicht mit Einlagen korrigiert werden“, bestätigt Kosel. Knick-Senk- und Plattfüße würden sich bei Kindern oftmals von alleine auswachsen. „Eltern sollte geraten werden, ihre Kinder viel barfuß und auf unterschiedlichen Untergründen gehen und laufen zu lassen.“
Dass sich kindliche Fußfehlstellungen oft selbstständig auswachsen, bestätigen auch Studien. Denn die Prävalenz des Plattfußes nimmt mit dem Alter deutlich ab (54 % bis 57 % im Alter von 2–3 Jahren, 21 % bis 24 % im Alter von 5–6-Jahren und 15 % im Alter von 10 Jahren). Die meisten Kinder entwickeln mit der Zeit ein Fußgewölbe; es ist daher nicht auszuschließen, dass es sich um eine normale Phase der physiologischen Reifung handelt.
Aus falsch oder unnötig verschriebenen Einlagen können sich später ernsthafte Fehlstellungen und medizinische Komplikationen entwickeln. So bestätigen Studien bereits seit Jahren, dass zu vielen Kindern Einlagen zur Behandlung von Plattfüßen ohne gegebene Diagnose verschrieben werden. Die langfristigen Auswirkungen von Einlagen auf den kindlichen Plattfuß sind hingegen wenig erforscht. Kinder, die tatsächlich an Plattfüßen leiden, scheinen jedoch von der Behandlung zu profitieren.
Einer der häufigsten Fehler bei der Verordnung von Einlagen ist laut Kosel die Verordnung auf Grund einer vermeintlichen Beinlängendifferenz. „Diese darf nur vorgenommen werden, wenn entweder tatsächlich die knöcherne Beinlänge unterschiedlich ist – beispielsweise nach einem Unfall mit Beteiligung der Wachstumszone – oder diese z. B. durch ein einseitiges Streckdefizit im Kniegelenk hervorgerufen wird.“
Oft läge jedoch gar keine echte Beinlängendifferenz vor, sie würde häufig fehldiagnostiziert. Die unterschiedliche Beinlänge komme vor allem durch Wirbelblockierungen und die daraus resultierenden Beckenschiefstände zustande. „Wenn Orthopäden diese Ursachen nicht erkennen und durch chirotherapeutische Techniken beheben, sondern fälschlicherweise eine vorgetäuschte Beinlängendifferenz annehmen und Einlagen mit Längenausgleich verordnen, werden die Kinder in der Fehlhaltung fixiert“, erklärt Kosel.
Unbehandelte Schiefstände hingegen können zu muskulären Verspannungen und gegebenenfalls Schmerzen führen. Hier können ausgleichende Einlagen durchaus hilfreich sein. Eine Studie zeigt, dass Ferseneinlagen zu einer „signifikanten Abnahme der Spitzenwerte der lateralen und anterioren Beckenkippung des langen Beins, der Hüft- und Knieabduktionsmomente des langen Beins und des Plantarflexormoments des kurzen Beins“ führen. Außerdem kam es zu einer signifikanten Zunahme der Beckenkippung des kurzen Beins im Vergleich zu herkömmlichen Schuhen. Einlagen können also die Beckenbewegung und die Gangdynamik bei echten Beinlängendifferenzen erheblich verbessern.
Was ist jetzt also mit den Einlagen: Sind sie überschätzt? Oder sind sie doch absolut berechtigt auf Platz Eins der verschriebenen medizinischen Hilfsmittel? Die Antwort: Ein bisschen was von beidem. Entscheidend ist, wie so oft, eine sorgfältige Diagnose des einzelnen Patienten und die an ihn angepasste Behandlung. In jedem Fall müssen die Patienten über die korrekte Verwendung ihrer neuen Hilfsmittel aufgeklärt werden. Das fängt bei der Auswahl der Materialien und Anpassung der Einlagen an – und natürlich beim Verwendungszweck.
„In der Regel sollen Einlagen individuell nach Maß angefertigt werden. Abhängig von der Nutzung wird unterschiedliches Material verwendet – bei Diabetikern muss es eine Weichbettung sein. Alltagseinlagen werden anders gefertigt als Sporteinlagen, die je nach Sportart spezielle Verstärkungszonen aufweisen. Einlagen für Laufschuhe müssen ggf. einen Supinations- oder Pronationskeil haben“, so Kosel.
Außerdem müssen sich die Füße erst an die neuen Einlagen gewöhnen. „Darüber müssen die Patienten aufgeklärt werden“, erklärt Kosel. Die Einlagen sollten erst nur eine Stunde am Tag getragen werden, nach und nach kann man die Tragedauer erhöhen. „Es kann mehrere Wochen dauern, bis sich Füße an Einlagen angepasst haben. Wenn das nicht gelingt und mit Einlagen Schmerzen auftreten, werden sie von Patienten nicht akzeptiert.“
„Schuheinlagen können sehr sinnvoll, bei falscher Indikation aber auch sehr schädlich sein. Sie dürfen nie aus Verlegenheit oder nur auf Verlangen von Eltern verordnet werden“, so Kosel. „Als Arzt sollte man immer die Notwendigkeit von Einlagen begründen und die Patienten ausführlich aufklären.“ Diese Aufklärung würde auch die Compliance erheblich verbessern.
Bildquelle: Jordan Seot, unsplash