Cannabis kann Psychosen auslösen – das ist allseits bekannt. Worüber nicht gesprochen wird, ist der Einfluss von Cannabinoiden auf die Gehirnentwicklung. Wir müssen darüber reden, dringend.
Cannabiskonsum ist unter Jugendlichen weit verbreitet. Das bestätigen auch aktuelle Daten der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht. Mehr als 22 Millionen erwachsene Europäer gaben an, im letzten Jahr Cannabis konsumiert zu haben. Die Jahresprävalenz für junge Erwachsene (Altersgruppe 15–34 Jahre) beträgt dabei 15,8 Millionen. Das Einstiegsalter für Cannabiskonsum ist seit Jahren das niedrigste unter allen weiteren untersuchten Substanzklassen (Kokain, Stimulantien, Heroin) und beträgt im Mittel 16 Jahre.
Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen, dass der wiederholte Konsum von Cannabinoiden in einer entwicklungskritischen Phase zu bleibenden strukturellen Veränderungen an neuronalen Schaltkreisen, die an der Bildung von Motivationssystemen im Gehirn beteiligt sind, führen können. Diese Veränderungen haben negative Konsequenzen auf die weitere Hirnentwicklung und führen zu Störungen der Motivation und zu weiteren Suchterkrankungen.
Die klinische Praxis zeigt, dass Patienten in Folge des frühen Cannabiskonsums nicht nur für weiteren Substanzmissbrauch anfällig sind, sondern auch eine erhöhte Anfälligkeit für Verhaltenssüchte aufweisen. Hervorzuheben ist hierbei die Glückspielsucht, welche heutzutage zunehmend auch im virtuellen Umfeld stattfindet und somit leicht verfügbar ist.
Zudem führt der Cannabiskonsum im Jugendalter zur Einschränkung der Fähigkeit des Gehirns, sich an neue Reize und Stimulationen anzupassen. Zusätzlich erhöht der Konsum die Wahrscheinlichkeit an einer cannabisinduzierten depressiven Symptomatik als Langzeitfolge zu erkranken. Diese ist – in Abgrenzung zur klinischen, nichtsubstanzgebundenen Depression i. S. einer depressiven Episode – gekennzeichnet durch fehlende kognitive Flexibilität, Antriebsstörung, Störung der Plan- und Organisationsfähigkeit sowie Anhedonie. Viele Betroffene beschreiben diesen pathologischen und äußerst belastenden Zustand mit den Worten „runtergedimmt“, „bin hängen geblieben“ oder „als hätte ich einen Hirnschaden“.
Die neurobiologische Forschung von Abhängigkeitserkrankungen zeigt, dass es eine gemeinsame biologische Grundlage für sowohl substanzgebundene als auch substanzungebundene Suchterkrankungen gibt. Das macht eine Suchtverlagerung nachvollziehbar. Neurowissenschaftliche Befunde zeigen außerdem einen Zusammenhang zwischen impulsivem Verhalten – als Konsequenz eines frühen Cannabiskonsums – und einer erhöhten Vulnerabilität für substanzgebundene und substanzungebundene Süchte. Insbesondere die nicht-planende Komponente der Impulsivität scheint dabei involviert zu sein, z. B. Auffälligkeiten dieser Impulsivitätskomponente und Spielsucht.
Grundsätzlich wurde mehrfach gezeigt, dass spezifische Aspekte der Impulskontrolle, z. B. die Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben oder zu warten, mit Suchterkrankungen assoziiert sind. Es wird davon ausgegangen, dass diese Störung auf Verhaltensebene (Unfähigkeit, Belohnungen aufzuschieben, planvoll zu handeln, Risiken im Vorfeld erkennen) die Konsequenz einer drogeninduzierten Vorschädigung von neuronalen Schaltkreisen ist, welche für zukünftiges und planvolles Verhalten zuständig ist. Zudem zeigen weitere Forschungsarbeiten, dass die Auffälligkeiten in den o. g. Impulsivitätsmerkmalen Ursache, nicht Konsequenz, von Spielsucht sind.
Die oben beschriebenen Defizite in kognitiven Hirnfunktionen sind auf den frühen und wiederholten Konsum zurückzuführen. Die Konsequenz des frühen Cannabiskonsums bzw. der zentral-wirksamen Komponente Tetrahydrocannabinol (THC) besteht in einer neuronalen Läsion bzw. einer mit einer Hirnverletzung vergleichbaren Langzeitschädigung.
Zudem konnte ein hoch relevanter Befund im Rahmen der IMAGEN-Kohorten-Studie im Längsschnitt zeigen, dass Cannabiskonsum während der Adoleszenz mit einer veränderten neurokortikalen Entwicklung assoziiert ist, insbesondere in Cannabinoid-1-Rezeptor dichtbesiedelten Kortexarealen. Denn die Gehirne – vor allem der Präfrontale Cortex – von Cannabis konsumierenden Jugendlichen schrumpfen schneller, als die der Abstinenzler. Das ist sogar dosisabhängig: Je mehr Konsum, desto mehr Hirnschrumpfung. Die strukturellen Auffälligkeiten, wie ein dünner rechtsseitiger dorsomedialer PFC, gehen mit kognitiven Defiziten in den Aufmerksamkeitsfunktionen einher. Diese Befunde bilden eine überzeugende Grundlage für das Gefährdungspotential durch Cannabiskonsum in der Adoleszenz.
Weiter bekannt und gesellschaftlich akzeptierter hingegen ist die Verbindung zwischen Cannabiskonsum und der Erstmanifestation von Psychosen. Das Psychoseerkrankungsrisiko hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab:
Zudem muss explizit auf die genetische Prädisposition für die Entwicklung von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis hingewiesen werden. Diverse Studien zeigen den moderierenden Effekt bestimmter Genotypen und genetischer Polymorphismen auf die Entwicklung einer Psychose.
In den letzten Jahren sind weitere cannabisassoziierte Störungsbilder in der klinischen Praxis in Erscheinung getreten. Diese werden oft fehldiagnostiziert – teilweise, weil die Betroffene nicht spontan von einem „potenziellen“ Cannabiskonsum berichten. Potenziell, da viele Patienten nicht mit Sicherheit angeben können, ob das, was sie auf einer Party konsumiert haben, THC-haltig war oder nicht.
Dies bringt uns zum Thema neue psychoaktive Substanzen. Aus dem aktuellen Drogenbericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht: „Anlass zur Sorge geben auch die zunehmenden Überschneidungen zwischen dem Markt für illegale Drogen mit dem Markt für neue psychoaktive Substanzen. Beispiele hierfür sind die Fälschung von Cannabisprodukten mit niedrigem THC-Gehalt und Edibles mit synthetischen Cannabinoiden.“ Denn die Gruppe der Cannabinoide ist eine der am schnellsten wachsenden unter den neuen psychoaktiven Substanzen.
Cannabisassoziierte psychische Störungen werden oft klinisch nicht sofort erkannt, weil die Wirkungsweise nicht auf THC eindeutig rückführbar ist. Psychiatrisch erfüllen die berichteten und beobachteten Störungsbilder die Kriterien einer Restkategorie, z. B. gemäß ICD-10 F12.74: anhaltende kognitive Beeinträchtigung. Andere Betroffene berichten auch Wochen nach dem Konsum cannabishaltiger Substanzen von Depersonalisations- und Derealisationserleben, von Nachhallzuständen oder von einem verzögert auftretenden psychotischen Geschehen – was nicht die zeitlichen Kriterien einer cannabisinduzierten Psychose gemäß erfüllt.
Die kognitiv-emotionalen Beeinträchtigungen können, je nach genetischer Veranlagung und komorbidem Zustand, verheerende Folgen für die soziale Teilhabe nach sich ziehen. In der klinischen Praxis sehe ich Betroffene, die massiv geschädigt sind und bei denen sozialrechtlich von einem Zustand einer seelischen Behinderung die Rede sein kann.
Leider fehlt eine gesellschaftlich wirksame Debatte über diese Aspekte. Die Wirkung von Cannabis soll nicht pauschal dämonisiert werden. Es sollte jedoch auch in den relevanten gesellschaftlichen Bezügen über andere Nebenwirkungen – außer des Psychoserisikos – gesprochen werden.
Vor 10 Jahren war ein aufklärendes Gespräch mit Jugendlichen, die THC konsumieren, relativ unproblematisch. Wir als Fachleute hatten Rückendeckung durch die Gesetzgebung und die Politik. 2016 musste man erläutern, wieso es THC auf Rezept gibt, das war aber auch verständlich und leicht zu vermitteln. Aktuell ist die Debatte – und es ist eine Debatte – im Behandlungssetting deutlich schwieriger. Es ist nicht einfach zu verstehen, wieso die Politik Cannabis legalisieren möchte, wenn es „doch so gefährlich für eine Altersgruppe ist“. Praktisch ist die angedachte Altersbeschränkung und die Altersfreigaberegelung nicht wirklich eine effektive Lösung. Politische Entscheidungen leben auch vom Zeitgeist. Es bleibt unsere moralische und berufsethische Verantwortung richtig aufzuklären – möglichst ohne zu moralisieren oder zu polarisieren.
Weitere Quellen:
Bildquelle: Daniel Jensen, unsplash
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