Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht: Für Patienten mit Ganser-Syndrom eine Katastrophe. Denn die Wahrheit ist für sie außer Reichweite – oft nur ganz knapp. Woran das liegt, daran scheiden sich die Geister.
Die Sonne ist grün – so etwa kann die Antwort eines Patienten mit Ganser-Syndrom lauten. Das Ganser-Syndrom ist eine seltene psychiatrische Erkrankung und gekennzeichnet durch falsche Antworten, Bewusstseinstrübung, hysterische neurologische Veränderungen und Halluzinationen.
Auf die Frage, wie viele Beine ein Pferd hat, antworten Ganser-Patienten beispielsweise mit „5“. Antworten auf einfache Rechenfragen sind ebenfalls falsch, aber nur leicht daneben (z. B. 2 + 2 = 3). Dieses Symptom wurde ursprünglich von Sigbert Ganser 1897 bei Untersuchungshäftlingen beschrieben und als „Vorbeigehen“ bezeichnet, obwohl auch häufig der Begriff „Vorbeireden“ verwendet wird.
Ursprünglich wurde angenommen, dass es hauptsächlich in forensischen Umgebungen auftritt. Daher wurde das Syndrom als Gefängnispsychose bezeichnet. Später wurden solche Fälle häufiger auch in nicht-forensischen Umgebungen dokumentiert. Betroffen sind meist Männer im jüngeren oder mittleren Alter. Ganser selbst hatte als weitere Merkmale Beeinträchtigungen der Auffassungsgabe, Aufmerksamkeit, Konzentration, Ängstlichkeit und Ratlosigkeit festgestellt.
Aufgrund der klinischen Merkmale wurde es verschiedentlich als Nonsense-Syndrom, Approximative-Antwort-Syndrom (vorbeireden), Pseudodemenz und Balderdash-Syndrom bezeichnet.
An Kriterien für die Diagnose Ganser-Syndrom werden von den Autoren Butzke et al. in Ihrem Beitrag „Scheinblödsinn oder Konversionsstörungen“ folgende Symptome aufgeführt:
Die diagnostischen Kriterien vom Ganser-Syndrom (GS) sind ungenau definiert. Die Klassifizierung wurde im Laufe der Jahre geändert. Das GS wird nicht in der DSM-5-Klassifikation aufgeführt, obwohl es im DSM-IV als dissoziative Störung eingestuft wird. Das Syndrom wird nach neuerer Auffassung eher als eine artifizielle Störung klassifiziert. Die WHO (ICD-10 und ICD-11) klassifiziert das GS als dissoziative Konversionsstörung.
Ganser hatte es als eine Art vorübergehenden hysterischen Dämmerzustand mit Amnesie für die Genesungsepisode angesehen. Psychopathologisch wird angenommen, dass es einen Ausweg aus einer unausweichlichen, unerträglichen und einengenden Situation bietet. Symptome des Ganser-Syndroms wurden jedoch auch bei Schizophrenie, affektiven Störungen und organischen Zuständen beschrieben.
Das Ganser-Syndrom in organischen Zuständen wurde hauptsächlich bei Patienten mit Kopfverletzungen und Schlaganfällen berichtet, hauptsächlich bei Patienten mit Beteiligung des Frontallappens. Es wurde auch bei Alkoholismus mit Korsakoff-Psychose, Neurosyphilis, Demenz und AIDS beobachtet.
Die Mechanismen, durch die diese zerebralen Insulte zum Ganser-Syndrom oder anderen dissoziativen Zuständen führen, sind jedoch weitgehend unbekannt. In einem Fall von Ganser-Syndrom mit AIDS wurde die Meinung vertreten, dass das Ganser-Syndrom nicht auf die direkten Auswirkungen einer HIV-Infektion zurückzuführen sei und psychologische Faktoren von vorrangiger Bedeutung seien. Es gab auch sporadische Fälle von zerebrovaskulären Ereignissen mit Beteiligung des Frontallappens mit Symptomen des Ganser-Syndroms.
Ouyanget et al. nehmen an, dass emotionaler Stress eine kortikolimbische Freisetzung von Glutamat hervorrufen kann. Die Autoren vermuten, dass diese hyperglutaminerge Übertragung im Frontallappen zu dissoziativen Symptomen in Fällen wie Ganser-Syndrom, PTSD, Schlaganfall usw. führen kann. Kroll et al. postulierten, dass eine Schädigung des präfrontalen Kortex, die für Konfabulation und autobiografische Amnesie verantwortlich ist, zu GS führen kann. Daher kann es einen Zusammenhang zwischen psychogenen und organischen Ursachen von GS geben, insbesondere wenn es mit einem emotionalen Stressor mit einer Vorgeschichte von TBI einhergeht.
Die forensischen Psychiater Resnick und Knoll beurteilen jedoch in ihrem Buch das Syndrom als „Pseudodemenz“ und bewerten es in erster Linie als Simulation.
Der Psychiater Prof. Volker Faust zitiert Ganser auf seiner Homepage wie folgt: „In keinem Punkte hätten seine Kranken in ihm den Verdacht des Gemachten, Gekünstelten erweckt. Er habe nie den Eindruck gehabt, als ob sie ihn täuschen wollten. Sie machten spontan keine albernen Bemerkungen. Nur wenn man sie fragte, kamen sie damit heraus und zeigten aber oft genug deutlich, wie lästig ihnen das alles war. Sie waren befremdet darüber, dass man ihre Antworten als falsch und einfältig, als dumm und albern bezeichnen wollte, während sie überzeugt schienen, dass alles richtig sei.“
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