Aktuell geht die Forschung davon aus, dass das primäre visuelle Areal im hinteren Teil des Gehirns hauptverantwortlich für unsere mentale Vorstellungskraft ist. Ein aktueller Patientenfall stellt jetzt dieses Dogma in Frage.
Jeden Tag nutzen wir eine einzigartige Fähigkeit unseres Gehirns – die visuelle Vorstellungskraft. Sie ermöglicht es, Bilder, Objekte oder Personen mental zu visualisieren. Anhand des jüngsten Falles eines Patienten mit einer spezifischen Hirnläsion haben Wissenschaftler des Pariser Hirnforschungsinstituts eine Hirnregion identifiziert, die wahrscheinlich eine Schlüsselrolle bei der mentalen Visualisierung spielt.
Ein Patient wird in die Notaufnahme eingeliefert, dessen Schlaganfall sich auf den okzipitotemporalen Bereich der linken Hemisphäre ausgebreitet hatte. Obwohl sein Leben gerettet werden konnte, wachte der Patient mit mehreren Defiziten auf: Hemianopie, Alexie und die Unfähigkeit, Farben zu benennen. Diese vielfältigen Beeinträchtigungen und das Vorhandensein der Läsion im linken Schläfenlappen veranlassten die Ärzte und Forscher des Pariser Hirnforschungsinstituts, eine weitere Gehirnfunktion zu untersuchen: die visuelle Vorstellungskraft.
Das gegenwärtig vorherrschende Modell zur Vorstellungskraft geht davon aus, dass das primäre visuelle Areal im hinteren Teil des Gehirns aktiviert wird, das auch an der Verarbeitung dessen beteiligt ist, was wir mit unseren Augen sehen, um mentale Bilder zu erzeugen. In den letzten zwanzig Jahren haben sich jedoch Hinweise aus Patientenfällen gehäuft, die diesem Dogma widersprechen.
In einer kürzlich durchgeführten Meta-Analyse hat das Team um Paolo Bartolomeo festgestellt, dass mentale Bilder stattdessen in den fronto-parietalen Netzwerken der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses sowie in einer kleinen Region des Gyrus fusiformis des linken Schläfenlappens kodiert werden. Der Fall dieses aktuellen Patienten mit einer okzipitotemporalen Läsion auf der linken Seite bot den Forschern des Pariser Hirnforschungsinstituts daher die Gelegenheit, ihre Hypothese erneut zu überprüfen.
Um die mentale Vorstellungskraft des Patienten zu testen, unterzogen die Ärzte ihn einer Reihe von Tests. Diese bestanden aus mehreren Fragen zum visuellen Erscheinungsbild von Objekten: Was ist röter, eine Erdbeere oder eine Kirsche? Welche Stadt liegt auf einer Karte von Frankreich zwischen Bordeaux und Straßburg am weitesten rechts? Um richtig zu antworten, musste der Patient also seine mentale Vorstellungskraft nutzen, um sich eine Erdbeere, eine Kirsche oder eine Landkarte von Frankreich vorzustellen. „Zu unserer großen Überraschung war das visuelle Vorstellungsvermögen unseres Patienten gut erhalten“, erklärt Bartolomeo, der letzte Autor der Studie. „Es stellte sich eine neue Frage: Warum hatte er keine Schwierigkeiten, obwohl er eine Läsion hatte, die wichtige Netzwerke für die Ausübung dieser Funktion in unserem Gehirn beeinträchtigt haben müsste?“
Dank einer MRT-Traktographie konnten die Forscher einige Schlüsselelemente identifizieren, die erklären, warum die mentale Vorstellungskraft des Patienten trotz seiner Läsion intakt war. Sie stellten fest, dass der Knotenpunkt für mentale Bilder, der sich im Gyrus fusiformis im linken Schläfenlappen befindet, von der Läsion verschont geblieben war.
Das Wissenschaftlerteam wies außerdem nach, dass durch diesen Knoten zwei Konnektivitätsbahnen verlaufen: der Fasciculus arcuatus, der mit dem Sprachsystem in Verbindung steht, und Fasciculus longitudinalis inferior, der mit dem semantischen System verbunden ist – d. h. mit unserem Wissen über die Welt, Objekte und Konzepte. Aufgrund seiner Läsion erhielt der Patient keine direkten visuellen Informationen mehr in seiner linken Hemisphäre. Der fusiforme Bilderzeugungsknoten erhielt also diese Art von Informationen nicht mehr, wurde aber weiterhin vom semantischen Netz gespeist.
„Diese Ergebnisse stützen unsere Hypothese, dass visuelle mentale Bilder durch eine Top-Down-Aktivierung aus dem sprachlichen und semantischen Netzwerk entstehen. Dies widerspricht dem vorherrschenden Modell der mentalen Vorstellungskraft, demzufolge die primären visuellen Bereiche für die Umsetzung dieser Fähigkeit notwendig sind“, schließt Bartolomeo.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung des Institut du Cerveau (Paris Brain Institute). Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Patrick Schneider, unsplash