Rassismus und Medizin haben eine lange gemeinsame Geschichte – bis heute. Ein aktueller Artikel zeigt die rassistischen Missstände früher Röntgenbehandlungen auf und appelliert an Ärzte, es besser zu machen.
Die Medizingeschichte hat ihre Sternstunden – aber auch ihre dunklen Momente. Rassismus ist bis heute ein großer und ernstzunehmender Teil der täglichen Medizin, der nicht ausreichend diskutiert wird. So zeigt ein aktueller Artikel, dass schwarze Menschen historisch gesehen eine deutlich höhere Dosis an Röntgenstrahlen verabreicht bekamen als weiße Menschen. Das geht wohl vor allem auf den damals vorherrschenden Glauben an anatomische Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Menschen zurück. Der Artikel von Dr. Itai Bavli und Dr. David S. Jones unterstreicht dabei die Wichtigkeit der Diskussion über rassistische Diskriminierung in der Medizin – auch oder besonders noch heute.
„Überzeugungen über körperliche Unterschiede prägen seit langem die medizinische Forschung, Diagnose und Therapie. Rassistische Theorien waren der Grund für unethische Experimente an schwarzen Amerikanern“, eröffnen Bavli und Jones ihren Artikel. Obwohl sich die Medizin heute überwiegend einig ist, dass die Abstammung nicht aussagekräftig für eine potentiell anders benötigte Behandlung ist, sind rassistische Überzeugungen und Praktiken – insbesondere die Verwendung rassistischer Kategorien – nach wie vor weit verbreitet.
Die Vorstellung von Unterschieden in der Knochen- und Hautdicke tauchte bereits im 19. Jahrhundert auf und blieb bis ins 20. Jahrhundert fester Bestandteil medizinischer Lehren. Das hatte, unter anderem, großen Einfluss auf die Röntgenaufnahmen. Schwarze Menschen wurden dabei viel höheren Strahlungsdosen ausgesetzt – wegen ihrer angeblich anderen Anatomie.
„Der Glaube, Schwarze hätten dichtere Knochen, mehr Muskeln oder dickere Haut, veranlasste Radiologen und Radiologietechniker dazu, bei Röntgenuntersuchungen eine höhere Strahlenbelastung einzusetzen“, erläutert Studienautor Bavli. Die Autoren erklären weiter, dass in den 1950er und 1960er Jahren Radiologen gelehrt wurden, bei dunkler Haut höhere Dosen radioaktiver Strahlung zu verwenden. So wurde beispielweise für ein Schädel-Röntgen eine 21 % höhere Dosis (10 Kilovolt mehr) vorgeschlagen.
„In einem Artikel von 1957 in The X-Ray Technician wurden Weiße als ‚normal‘ eingestuft. Für schwarze oder braune Patienten wurde eine Anpassung empfohlen, um ein besseres Röntgenbild zu erhalten (z. B. Verwendung einer Dosis, die 4 Kilospannungsspitzen höher als normal ist – eine Erhöhung um 9,5 bis 25 %), so Bavli. Die Empfehlung im 1960 erschienenen X-Ray Technology besagt, dass schwarze Patienten eine 40–60 % höhere Dosis erhalten sollen. Diese Empfehlung wurde in der dritten Auflage (1964) beibehalten. Auch die General Electric Company (GE), der damals größte Hersteller von Röntgendiagnosegeräten, gab ihre eigenen rassenbezogenen Empfehlungen ab.
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Neben schwarzen Personen wurden auch adipöse, sehr muskulöse, an Sklerose, Osteomyelitis oder Morbus Paget leidende Menschen sowie Patienten mit Gips höheren Strahlendosen ausgesetzt. Untergewichtige Patienten, Patienten mit Osteoporose, alte Menschen und Kinder hingegen erhielten eine geringere Strahlendosis.
„Wir wissen nicht, wie viel Prozent der Röntgenaufnahmen von schwarzen Amerikanern mit erhöhter Strahlung gemacht wurden. Wir wissen auch nicht, wie viele Menschen potenziell geschädigt wurden“, so die Autoren. Die erhöhte Dosis hatte wahrscheinlich bei einer einzelnen Behandlung nur geringe Effekte. „Bei Personen, die mehrfach exponiert waren, könnte die kumulative Wirkung jedoch beträchtlich gewesen sein.“ Viele Menschen wurden vermutlich unwissentlich einem erhöhten Risiko ausgesetzt – auf Grund von rassistischer Wissenschaft mit unbegründeten Überzeugungen zur anatomischen Differenz von schwarzen und weißen Menschen.
Erst 1968 wurde durch ein Review des U.S. Public Health Service’s National Center for Radiological Health (NCRH) an dem Standard gerüttelt. Die generelle Aufklärung über die Gefahr von Röntgenstrahlen und ihre möglichen medizinischen Auswirkungen veranlasste den US-Senat dazu, auch die höheren Strahlungsdosierungen für schwarze Menschen zu überdenken – die bis dahin nicht öffentlich diskutiert wurden. Allerdings leugneten das American College of Radiology (ACR) und die American Dental Association (ADA) die ungleiche Behandlung. Wenig später veröffentlichte schlussendlich das NCRH ein Statement, in dem es heißt: „Die Röntgentechnik ist eine Fähigkeit, deren Beherrschung eine umfassende Ausbildung und Erfahrung erfordert. Daher sollte die Technik mit dem einzelnen Patienten und den Anforderungen einer bestimmten Untersuchung variieren und nicht auf der Grundlage der Rasse.“
„Man hätte erwarten können, dass Röntgentechniken, die durch die Haut hindurch auf tiefer liegende Strukturen blicken, von der Rassifizierung verschont bleiben. Sie wurden es nicht“, geben die Autoren ernüchternd als Fazit. Jedoch kann und muss man aus diesem Fehler für heutige Behandlungen lernen. Denn Rassismus und andere Formen von Minderheiten-Diskriminierung sind immer noch ein großer Bestandteil der Medizin und müssen diskutiert werden.
„Die Rassifizierung der Nutzung des Röntgengeräts zeigt, wie soziale und medizinische Überzeugungen (z. B. über die Dichte von Haut und Knochen) in medizinische Praktiken und Institutionen einfließen. Sie verdeutlicht das Problem, sich auf vermeintliche Unterschiede zwischen gesellschaftlich definierten Rassen zu konzentrieren und die Heterogenität innerhalb dieser zu ignorieren“, erklärt Bavli. „Nur wenn wir über alle möglichen negativen Auswirkungen der Klassifizierung und Behandlung von Patienten auf der Grundlage ihrer Herkunft aufklären und nicht mehr davon ausgehen, dass weiße Menschen ‚normal‘ sind und wir andere Menschen ‚korrigieren‘ müssen, können wir den nächsten Rassenkorrekturfehler verhindern.“ Die Annahme von weißer Haut als medizinischer Standard führt zu ihren ganz eigenen Problemen – beispielsweise bei der Entwicklung medizinischer Geräte. So können Studien zufolge Pulsoximeter den Blutsauerstoffgehalt bei Patienten mit dunkler Hautfarbe nicht so genau messen, wie bei Menschen mit heller Hautfarbe.
„Nur indem wir weiterhin rassistische Vorfälle in der Medizin dokumentieren, können wir dazu beitragen, Patienten vor medizinischem Rassismus zu schützen und auf gesundheitliche Gerechtigkeit hinzuarbeiten“, konkludiert Bavli.
Bildquelle: National Cancer Institute, unsplash