101 Jahre nach der historischen Entdeckung des Insulins tut sich mehr denn je – und nicht nur im Bereich der Wirkstoffforschung. Was Patienten außer einem künstlichen Pankreas dabei helfen kann, ihren Stoffwechsel zu optimieren, lest ihr hier.
Regelmäßig den HbA1c-Wert bestimmen und Insulin spritzen, daran stören sich die meisten Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes. Die gute Nachricht: Moderne Technologien nehmen ihnen mehr und mehr Arbeit ab. Auch die Stoffwechsellage verbessert sich in etlichen Fällen.
Besonders effektiv sind AID-Systeme (Automatische Insulin-Dosierung), auch Closed Loop oder künstliche Bauchspeicheldrüse genannt. Nach längerer Entwicklung haben es die Geräte mittlerweile zur Marktreife gebracht. Sie bestehen aus einem Sensor zu Messung der Glukosewerte im Unterhautfettgewebe, einer Insulinpumpe und einem Algorithmus zur Steuerung. Unterschieden wird zwischen der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) und der Flash-Glukosemessung (FGM). CGM-Systeme senden Daten aktiv an einen Empfänger und lösen gegebenenfalls einen Alarm aus, während User bei FGM-Systemen Daten aktiv abfragen müssen.
Hybrid-AID-Systeme arbeiten autark hinsichtlich der Basisversorgung; Bolusinsulin zu den Mahlzeiten müssen Patienten dennoch selbst applizieren. Ähnlich funktionieren die Advanced-Hybrid-AID-Systeme. Sie können jedoch, falls erforderlich, eine Korrekturbolus selbst abgeben. Vollständig geschlossene AID-Systeme übernehmen auch die Bolusgaben. Und bihormonelle AID-Systeme dosieren nicht nur Insulin, sondern auch den Gegenspieler Glucagon.Grafik: Mbbradford/Wikimedia Commons, CC0
Bei AID-Systemen handelt es sich keineswegs um technische Spielereien. Studien der letzten Jahre zeigen deutlich, wie Patienten profitieren. Die Tools optimieren generell die Stoffwechsellage und helfen, das Risiko nächtlicher Hypoglykämien zu verringern. Ein Hybrid-Closed-Loop-System verbessert die glykämische Kontrolle bei kleinen Kindern mit Typ-1-Diabetes signifikant, ohne die in Hypoglykämie verbrachte Zeit zu verlängern.
Ähnliche Resultate fanden Wissenschaftler bei Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes und schlechter Kontrolle der Erkrankung. Bei Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes erwies sich die vollautomatisierte Insulinabgabe ohne Mahlzeitenbolus auch als wirksam und sicher; ebenso bei Typ-1-Patienten.
CGM-Systeme sind seit 2019 auch in Deutschland verfügbar; Ärzte müssen ihre Verordnung vorab begründen. Dann übernehmen gesetzliche Krankenkassen auch die Kosten, lehnen jedoch etliche Anträge ab.
Anwender wünschen sich Umfragen zufolge eine bessere Behandlungsqualität, mehr Selbstbestimmung und mehr Unterstützung durch moderne Technologien. Sie stören sich an teils selbst zu tragenden Kosten – vor allem bei manchen PKVen – und haben Angst vor Fehlern oder vor falschen Therapieentscheidungen.
Trotz einer gewissen Skepsis ist der Trend nicht mehr zu stoppen. Im Laufe der letzten vier Jahre haben vor allem CGM-/Flash-Glukosemess-Systeme deutlich zugelegt (+ 144 Prozent). Bei AID-Systemen waren es plus 100 Prozent. Im Durchschnitt nutzen pro diabetologischer Einrichtung 495 Patienten Tools zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM/Flash), 102 eine Insulinpumpe und 19 ein AID-System, Stand 2021.
Dass AID-Systeme immer mehr an Relevanz gewinnen, sieht man auch daran, dass zwei große Fachgesellschaften vor wenigen Tagen einen Konsens-Report zum Thema veröffentlicht haben. Darin zeigen die European Association for the Study of Diabetes (EASD) und die American Diabetes Association (ADA) die zahlreichen Vorteile der AID-Systeme auf, geben praktische Tipps für Behandler und weisen darauf hin, an welchen Stellen es Hersteller und Ärzte noch besser machen können.
Von der Praxis zur Forschung: Noch reichlich Zukunftsmusik sind Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI) und des maschinellen Lernens. Wie in anderen Fachgebieten verfolgen Forscher die gleiche Strategie: Überall im Gesundheitswesen erheben niedergelassene Ärzte, Kliniken, Krankenversicherungen und weitere Dienstleister Versorgungsdaten. Algorithmen erkennen darin Muster, die sich menschlichen Augen entziehen: Wer hat ein hohes Risiko für Typ-2-Diabetes, ohne jemals untersucht worden zu sein? Und bei wem schreitet die Stoffwechselerkrankung besonders schnell voran, was maximal mögliche Therapien rechtfertigt?
Auch hier ein Blick in die Literatur: In den USA benötigen 10 Prozent der Patienten mit neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes 68 Prozent aller diabetologischen Leistungen der Gesundheitsversorgung. KI/ML könnten solche Patienten erkennen, um ihnen gleich zu Beginn eine intensivere Versorgung erhalten als Standardpatienten.
Zumindest in Studien erkennen solche Modelle langfristige Risikounterschiede von Patienten. Bei der Erkennung diabetischer Retinopathien schnitten die meisten Algorithmen – noch – nicht besser ab als Ärzte. Generell erwarten Forscher, dass es mit der prognostischen Leistung solcher Tools stark bergauf gehen wird.
Dennoch lohnt sich ein kritischer Blick. KI und ML werden nur funktionieren, wenn Entwickler Zugriff auf große, methodisch hochwertige Trainingsdatensätze haben. Ärzte wiederum sollten den Tools nicht blindlings vertrauen. Und sie sollten wissen, wie Algorithmen ticken. Die Software darf keine Black Box sein.
Während KI und ML im ärztlichen Bereich noch Zukunftsmusik sind, haben digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) längst den Versorgungsalltag erreicht. Die Zahl an Apps oder Online-Tools lässt sich kaum überblicken. Doch wie gelingt es, die Spreu vom Weizen zu trennen?
Seit ziemlich genau zwei Jahren können Ärzte DiGA zu Lasten gesetzlicher Krankenkassen verordnen. Die Apps oder Online-Anwendungen müssen zuvor eine Prüfung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) durchlaufen.
Experten überprüfen bei jedem Tool, ob Anforderungen an Sicherheit und Funktionstauglichkeit, an Datenschutz und Informationssicherheit sowie an Qualität und Interoperabilität erfüllt werden. Außerdem müssen Hersteller Nachweise für positive Versorgungseffekte vorlegen. Reine Wellness-Apps kommen nicht infrage.
Setzt das BfArM an alle Punkte einen Haken, landen Apps bzw. Online-Anwendungen im DiGA-Verzeichnis – und können verordnet oder direkt bei der GKV beantragt werden. Fehlen Daten aus Studien, bleibt die Möglichkeit, DiGA befristet für ein Jahr zu listen. In der Zeit kann der Hersteller weitere Angaben machen.
Im DiGA-Verzeichnis befinden sich Anwendungen zu unterschiedlichen Indikationen, auch zur Diabetologie:
„Aufgrund hoher Anforderungen an DiGAs und des aufwendigen Zulassungsprozesses beim BfArM streben bisher nur vergleichsweise wenige Hersteller von Diabetes-Apps die Zulassung als DiGAs an“, heißt es im Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2022. Der Markt ist jedenfalls da, und mit weiteren DiGA ist zu rechnen.
Auch direkt in diabetologischen Praxen tut sich viel. Vom bekannten Corona-Trend, Menschen per Telemedizin zu versorgen, profitieren Diabetes-Patienten ebenfalls. Nicht immer ist der Termin vor Ort notwendig – vor allem, wenn Diabetologen digital auf umfangreiche, hochwertige Messwerte zugreifen können. Der Trend führt zu einer engmaschigeren Überwachung von Menschen mit schwerem Krankheitsverlauf oder mit schlecht heilenden Wunden. Im besten Fall verringern Programme zur Fernbehandlung auch die Kosten für Gesundheitssysteme.
Eine Herausforderung wird die Telemedizin nicht lösen: Seit den 1990er-Jahren steigt die Zahl an Diabetes-Patienten; schätzungsweise 8,5 Millionen Deutsche leiden daran. Früher oder später werden diabetologische Praxen den Aufwand nicht mehr bewältigen können.
Gute Daten machen noch in anderer Hinsicht den Unterschied. Seit 1. Januar 2021 haben alle gesetzlich Versicherten Anspruch auf eine elektronische Patientenakte (ePA). Der Start war mehr als holprig. Gerade Patienten mit Diabetes profitieren davon, weil am Management der Krankheit unterschiedliche Fachärzte, aber auch unterschiedliche Berufsgruppen beteiligt sind. Haben alle die gleichen Informationen, gelingt die Behandlung besser.
Doch der Alltag sieht düster aus. Ende 2020 hatten rund 40 Prozent aller Versicherten noch nie etwas von der ePA gehört. Und laut einer Recherche des Handelsblatts nutzten bis Anfang 2022 nur 0,5 Prozent der anspruchsberechtigten 73 Millionen Versicherten der GKV die ePA. Erschwerend kommt ein mehrstufiges Opt-in-Verfahren hinzu: Nutzer müssen mehrfach ihre Zustimmung geben, was nicht bei allen Personen auf Zustimmung stößt. Eine mögliche Lösung könnten Opt-out-Verfahren sein: Alle Patienten erhalten von ihrer GKV eine ePA, können jedoch aktiv widersprechen.
Bleibt als Fazit: In der Diabetologie tut sich viel. Etliche Studien zeigen, dass Patienten von datengetriebenen Ansätzen profitieren. Trotz aller Euphorie sollten Ärzte immer auf Datenschutz bzw. Datensicherheit achten. Und Algorithmen wiederum sind nur so gut wie ihre Datenbasis. Ohne klinische Studien läuft auch in der Digital-Diabetologie so gut wie nichts.
Mehr zum Thema: Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes 2022
Bildquelle: Milivoj Kuhar, Unsplash