Experten rechnen in diesem Herbst mit einer verstärkten RSV-Welle. Warum das gerade jetzt zum Problem werden kann – und welche Risikogruppe Ärzte oft vergessen, lest ihr hier.
Die Allgemeinheit hat es durch den großen Fokus auf SARS-CoV-2 in den letzten zwei Jahren zwar ein wenig vergessen, aber: Es gibt auch noch andere virale Atemwegserkrankungen. Oft sind es nur normale Erkältungsviren, aber eines der gängigen Viren treibt besonders Pädiater alljährlich umher. Die Rede ist natürlich vom respiratorischen Synzytial-Virus (RSV). Um dieses ging es heute bei einem gesonderten Pressegespräch. Bei der von AstraZeneca ausgerichteten Veranstaltung berichteten Prof. Thorsten Orlikowsky, Leiter Sektion Neonatologie und Intensivstation des Uniklinikums RWTH Aachen, und Dr. Franziska Schaaff, niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Infektiologie, über die besonderen Herausforderungen der kommenden RSV-Welle.
RSV ist die häufigste Ursache von Atemwegsinfektionen im Kindesalter. Ca. 90 % aller Kinder infizieren sich innerhalb der ersten 2 Lebensjahre mit dem Virus. Neben akuten schweren Erkrankungen, die mit Bronchiolitis und Pneumonie einhergehen können, kann die RSV-Infektion auch zu langanhaltenden Folgeerkrankungen wie Asthma führen. Selbstverständlich sind nicht alle Kinder gleich gefährdet, allerdings gibt es bestimmte Risikogruppen, auf die Ärzte ein besonders wachsames Auge haben müssen. Zu diesen besonders gefährdeten Gruppen gehören Frühgeborene, aber auch Kinder mit bestimmten Vorerkrankungen.
Welche Vorerkrankungen gehören im Detail dazu? Prominent sind hämodynamisch relevante angeborene Herzfehler (HD-CHD) und die Bronchopulmonale Dysplasie (BPD), aber auch verschiedene Erbkrankheiten wie neuromuskuläre Beeinträchtigungen, schwere neurologische Syndrome wie Trisomie 21, Immundefizienzen und Mukoviszidose gehören zu der langen Liste.
Neben Vorerkrankungen kommen noch weitere aggravierende Faktoren hinzu. So sind beispielsweise Mehrlingsgeburten und Kinder männlichen Geschlechts häufiger von schweren Verläufen betroffen. Auch Asthmafälle in der Familie und Unterernährung erhöhen das Risiko. Natürlich spielt auch das Alter zum Zeitpunkt der Infektion eine Rolle: Besonders gefährdet sind Kinder, die zu Beginn der RSV-Saison noch unter 6 Monate alt sind.
Abschließend sind auch psychosoziale Faktoren nicht zu unterschätzen. Beengte Wohnverhältnisse, Exposition gegenüber Zigarettenrauch (vor und nach der Geburt), und niedriger sozialer Staus tragen zum Risiko eines schweren Verlaufs bei. Ein Problem stellt für gefährdete Patienten auch dar, wenn sie selber oder ein Geschwisterkind die Kindertagesstätte besucht. Orlikowsky betont, dass gerade solche externen Einflüsse im Vergleich zu den patienteneigenen Faktoren, wie Komorbiditäten, immer mehr an Bedeutung gewinnen, je reifer das Kind ist.
Die Pädiater Orlikowsky und Schaaff beschäftigt eine Risikogruppe besonders, da sie sehr gerne übersehen wird: Die späten Frühgeborenen. Bei sehr frühgeborenen Kindern (< 29. SSW) ist jedem klar, dass sie besonders anfällig für Infekte sind und bei ihnen wird in der Regel bereits in der Klinik darauf hingewiesen, dass eine RSV-Prophylaxe möglich und sinnvoll ist. Bei den späten Frühgeborenen (34 – 36. SSW) wird das Risiko hingegen öfter unterschätzt, weil sie einem Reifgeborenen sonst in vielem ähnlich sind. „Das sind sie aber nicht“, bekräftigt Schaaff.
Das Problem: Auch die späten Frühchen haben einen signifikant geringeren Immunschutz durch Antikörper der Mutter. Diese werden nämlich hauptsächlich im letzten Trimester kurz vor Geburt übertragen. Das hat zur Folge, dass bereits bei einem Gestationsalter von 32 – 35 Wochen nur knapp halb so viele Ig-Antikörper vorliegen, wie bei einem Kind, das nach 37 Wochen geboren wurde. Weiterhin sind die Frühchen auch durch eine unreife Architektur der Atemwege anfälliger für einen schweren Krankheitsverlauf: Dazu zählt unter anderem ein deutlich verringertes Lungenvolumen, sowie eine dickere Bronchialwand und eine erhöhte Mukusproduktion.
Wichtig ist für die Risikogruppen dementsprechend die saisonale Prophylaxe. Solange es keine aktive Impfung gegen RSV gibt, fußt sie weiterhin auf der passiven Immunisierung mit Palivizumab. Schaaff betont, dass der monoklonale Antikörper langjährig erprobt ist und sowohl in klinischer Erfahrung als auch Studien seine gute Wirksamkeit demonstriert hat. Die Studien zeigen erhebliche Reduzierung der Sterblichkeit und auch Klinikaufenthalten. Ihr Rat lautet daher: Risikopatienten in der eigenen Praxis identifizieren, dokumentieren, und pünktlich zum Anfang der RSV-Saison zur Immunisierung einbestellen.
Es zeigt sich aber auch eine weitere Baustelle: In einer nicht-repräsentativen Umfrage gaben 83 % der Pädiater an, dass Eltern zu wenig über RSV Bescheid wüssten. Schaaff kann dies auch aus eigener Erfahrung bestätigten und wünscht sich in der Hinsicht mehr Aufklärung – sowohl von Ärzten, als auch von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. So müsste Eltern die Bedeutung von allgemeinen Präventionsmöglichkeiten besser vermittelt werden.
Orlikowsky weist derweil auf ein weiteres Problem hin: Die Infektionswellen verschieben sich zusehends und eine strenge Saisonalität – auf der auch beispielsweise die Indikation der Antikörpergabe fußt – könnte bald Geschichte sein. 2019 gab es noch die normale Saison von November bis April. Den Corona-Schutzmaßnahmen ist es allerdings zu verdanken, dass auch andere respiratorische Viren deutlich zurückgedrängt wurden und so die übliche RSV-Saison im Winter 2020/21 komplett ausgefallen ist. „Die Stationen waren leer, […] wir haben im letzten Jahr tatsächlich kaum Atemwegsinfektionen gehabt“, erinnert sich Orlikowsky.
Dafür kam das RS-Virus 2021/22 mit voller Wucht zurück. Das Virus zirkulierte in Deutschland bereits ab September. In Australien, aber auch in unseren europäischen Nachbarländern hatten Ärzte mit einer ausgeprägten Sommerwelle zu kämpfen (wir berichteten). Hinzu kam, dass im Vergleich zu den Vorjahren ungewöhnlich viele und schwere Fälle auftraten, wie Orlikowsky aus seiner Klinik zu berichten weiß: „Diese Saison war besonders heftig.“ Im Zusammenspiel mit der ausgedünnten Personallage war das ein perfektes Desaster, und so kam es in der Mehrzahl der Kinderkliniken zu Versorgungsengpässen und Überlastungen.
Die Veränderung in den letzten Jahren hängt sicherlich mit Corona zusammen: Durch die Infektionsschutzmaßnahmen wurden respiratorische Erreger grundsätzlich eingedämmt. Durch die mangelnden Immunkontakte gab es dann allerdings auch weniger Herdenimmunität; weiterhin könnte die Unterstimulation zu Fehlentwicklungen in den kindlichen Immunsystemen geführt haben – daher die schwereren Fälle. Dieser Corona-Effekt wird sich nach Orlikowskys Einschätzung zukünftig aber auch wieder einpendeln.
Was allerdings bleiben dürfte ist die veränderte Saisonalität. Orlikowsky erklärt: „Es wird prognostiziert, dass diese RSV-Zyklen unregelmäßiger werden und im Durchschnitt vielleicht über das ganze Jahr gehen und etwas abflachen.“ Der Grund dafür könnte in der deutlichen Veränderung des Klimas liegen. Wie eine Studie in Nature Communications nahelegt, hängt die Übertragung des RSV sehr vom Wetter ab. Die Luftfeuchtigkeit und Regenfälle haben demnach einen klaren Einfluss auf Infektionsgeschehen – auch wenn unklar ist, ob es sich dabei um ein rein physikalisches Phänomen handelt oder sich der Effekt eher auf soziale Faktoren (wie dass man sich bei Regen oft in Gruppen unterstellt) zurückführen lässt. So oder so: Das Wetter verändert sich in den letzten Jahren in unseren Breitengraden merklich. Der Einfluss auf die Epidemiologie bleibt wohl abzuwarten.
Zusammengefasst ist die Botschaft der beiden Experten klar: Auch dieses Jahr wird mit einer verstärkter RSV-Welle gerechnet. Auch wenn sie dieses Jahr noch deutlich entspannter anzulaufen scheint als im letzten Winter, machen sich die Kliniken Sorgen, da auch dieses Jahr der Personalmangel die Versorgung schwerer Fälle bedroht. Daher der dringende Appell: Risikogruppen identifizieren und so gut wie möglich schützen.
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