Immer mehr Frauen lehnen die Pille ab – das Kondom ist der neue alte Stern am Verhütungshimmel. Woran liegt das und welche Auswirkungen hat das auf die Praxis? Lest es hier.
Viele Frauen scheinen hormoneller Verhütung, und ganz besonders der Pille, zunehmend skeptisch gegenüberzustehen. Diesen Wandel sieht auch Prof. Sibil Tschudin, leitende Ärztin der Abteilung für Gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik am Universitätsspital Basel. Auf dem DGVM-Kongress stellte sie ihre aktuelle Forschungsarbeit dazu vor. Was ist dran, an der gefühlten Pillenmüdigkeit? Und vor allem: Was sind die Hintergründe?
In den letzten Jahren lassen sich aus allen deutschsprachigen Ländern rückläufige Zahlen für hormonelle Verhütungsmittel erkennen. Das geht aus populationsbezogenen Daten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hervor.
Im Zuge der Schweizerischen Gesundheitsbefragung wurde festgestellt, dass die Pille als Kontrazeptivum seit 1992 stetig an Beliebtheit verliert. So gaben 1992 noch über 40 % der Frauen an, mit der Pille zu verhüten. 2017 waren es nur mehr knapp über 30 %. Im selben Zeitraum stieg hingegen die Anzahl der Frauen, die mit Kondom verhüten von unter 30 % auf knapp 40 % an. Dieser Trend ist besonders bei jungen Frauen zu beobachten. Außerdem werden häufiger – zusätzlich zu herkömmlichen Verhütungsmethoden – Zyklusapps verwendet. „Dafür könnte die vermehrte Verwendung von Kondomen ein Grund sein“, so Prof. Tschudin. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme.
Auch in Deutschland ist ein ähnlicher Trend zu verzeichnen. Hier zeigen BZgA-Daten, dass Kondome immer relevanter werden. Der Rückgang bei der Verhütungsmethode Pille beläuft sich in den Jahren 2011–2018 auf 6 %, während das Kondom 8 % zulegen konnte. Ebenfalls interessant: Bei keinem anderen der untersuchten Verhütungsmittel – z. B. Sterilisation des Mannes und der Frau, Kalendermethode, Temperaturmethode, Vaginalring und Dreimonatsspritze – gab es nennenswerte Veränderungen im selben Zeitraum. „Wir sehen aber einen Trend in allen drei deutschsprachigen Ländern bei der Zunahme der Nachfrage nach Kupferspiralen. Allerdings kann dieser Trend aufgrund mangelhafter Daten noch nicht sicher beurteilt werden“, erklärt Tschudin.
Es stellte sich heraus, dass es besondere Charakteristika gibt, die pillenmüde Frauen vereinen. So verhüten neu in die Schweiz eingewanderte Frauen signifikant seltener mit der Pille – beziehungsweise generell mit hormonellen Kontrazeptiva. Aber nicht nur Abstammung und Nationalität beeinflussen die Verhütungsmethode. Frauen, die sich viel sportlich betätigen, verhüten öfter hormonell (Faktor 1,6). Vegetarier hingegen neigen dazu, weniger oft hormonell zu verhüten (Faktor 0,38).
Aber auch der Bildungsstand hat einen Einfluss auf die bevorzugte Verhütung. „Es zeigt sich, dass Frauen mit einem geringen Bildungsniveau häufiger die Pille anwenden als Frauen mit einem hohen Bildungsniveau“, so Tschudin. „Junge Erwachsene aus prekären Verhältnissen verhüten häufiger hormonell, während Ausländerinnen aus der unteren Mittelschicht sowie einkommensstarke Frauen am seltensten zur Pille greifen“. Auf den ersten Blick passen diese Bevölkerungsschichten nicht zusammen – jedoch sind die Gründe, auf die hormonelle Verhütung zu verzichten, wahrscheinlich andere. Außerdem verhüten Frauen, die auf alternativmedizinische Praktiken – besonders auf Homöopathie, Heilpraktiker und Phytotherapie – zurückgreifen, signifikant seltener hormonell.
Aus den Ergebnissen des österreichischen Verhütungsreports geht hervor, dass hormonfreie Verhütung für 60 % der Frauen wichtig ist. Der Hauptgrund für die Vermeidung hormoneller Kontrazeption war für fast 40 % der befragten Frauen die Angst vor Nebenwirkungen. „Frauen mit hormoneller Verhütung würden ihre Kontrazeptionsmethode vor allem aus Angst vor negativen Begleiterscheinungen – körperlich, psychisch und sexuell – wechseln. Weitere Gründe inkludieren Akne, Gewichtszunahme und Blutungen“, so Tschudin.
Wozu führt nun diese nicht neue, aber steig wachsende Pillenmüdigkeit? „Entgegen unterschiedlicher Annahmen kam es in der Zeit, in der die Pille weniger eingenommen wurde, zu keinem Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche“, so Tschudin. In der gynäkologischen Praxis habe dieser Umschwung vor allem die Auswirkung, dass immer mehr Alternativen – sowohl hormonell, als auch hormonfrei – gewünscht werden. Besonders junge Frauen haben oft Bedenken gegenüber hormoneller Verhütung und fordern eine genaue Aufklärung.
Ebenfalls muss die psychische Komponente hormoneller Verhütungsmethoden mitgedacht und im Blick behalten werden. So zeigen Studien mittlerweile einen deutlichen Zusammenhang zwischen hormoneller Verhütung und einer Depressions-Erstdiagnose sowie einer Ersteinnahme eines Antidepressivums. Dies ist vor allem bei heranwachsenden und jungen Frauen zu beobachten. „Das ist besorgniserregend. Aber wenn man sich diese Daten genau anschaut, sieht man auch, dass das Risiko bei Frauen, die mit reinen Gestagen-Präparat verhüteten, deutlich höher war als bei Frauen, die mit einem Kombipräparat – also mit der klassischen Pille – verhüteten“, ordnet Tschudin die Ergebnisse ein.
Die Auswirkungen hormoneller Kontrazeptiva auf die Stimmung, Sexualität sowie die daraus resultierenden psychischen Komplikationen sind noch nicht ausreichend untersucht. Das sieht auch die European Society of Sexual Medicine in einem Positionspapier so. „Ebenfalls ist nicht klar, inwiefern sich der durch die hormonellen kombinierten Kontrazeptiva bedingte Hypoöstrogenismus und Hypoandrogenismus auf Libido, sexuelle Reaktion, Lubrikation, Orgasmus und die Beziehungszufriedenheit auswirken“, ergänzt Tschudin.
„Was wir jedenfalls wissen, ist, dass die in allen kombinierten hormonellen Kontrazeptionen enthaltenen Sexualsteroide die Blut-Hirn-Schranke passieren und Hirnareale beeinflussen, die an der Emotionskontrolle beteiligt sind. Auch könnten Frauen mit bereits bestehenden psychischen Störungen ein höheres Risiko tragen.“ Deswegen sollte, vor allem bei der vulnerablen Patientengruppe junger und psychisch vorbelasteter Frauen, ein besonderes Augenmerk auf die Wahl der Verhütungsmethode gelegt werden.
„Wir müssen unbedingt die individuellen Bedürfnisse einzelner Patientinnen berücksichtigen. Es ist wichtig, dass Zielgruppengerecht beraten wird – das beinhaltet sowohl psychosoziale Faktoren als auch die Präferenzen der jeweiligen Frau. Wir müssen ebenfalls bedenken, dass Nebenwirkungen einen erheblichen Einfluss auf die Adhärenz zu einem Verhütungsmittel haben. Eine individuell zugeschnittene Kontrazeptionsberatung ist also essenziell für Zufriedenheit und Adhärenz zu der gewählten Methode“, konkludiert Tschudin.
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