60 Prozent des Körpergewichts lasten bei gesunden Hunden auf den Vorderpfoten. Doch was tun, wenn ein Vorderlauf amputiert werden muss? Eine Eigenkraftprothese soll Hunden mit noch funktionalem Ellenbogen mehr Lebensqualität geben.
Henry hatte in seinem Leben Glück, und das gleich zwei Mal. Mit zwei Monaten landete der inzwischen fünfeinhalbjährige Belgische Schäferhund besitzerlos im Tierheim. Dort wurde beim Spiel mit einem Rottweiler aus Spaß bitterer Ernst und Henry verlor als sechsmonatiger Jugendlicher seine rechte Vorderpfote. „Sein Glück war, dass ihm nicht der ganze Vorderlauf bis zur Schulter amputiert wurde – was in der Tiermedizin bei solchen Verletzungen durchaus üblich ist“, sagt Eva Schnabl-Feichter, Chirurgin an der Vetmeduni Wien. Henrys Ellenbogen ist intakt, wodurch er nun als Studienteilnehmer für eine neue Hightech-Vorderpfote in Frage kommt.
„Wir sehen bei Tieren mit amputierten Gliedmaßen oft Probleme“, sagt die Veterinärmedizinerin. Denn auf lange Sicht erfolgt eine Überbelastung der intakten Gliedmaßen durch die ungleichmäßige Gewichtsverteilung. Das Gangbild verändert sich und zieht eine ganze Reihe an Komplikationen und vor allem Schmerzen für die Tiere nach sich. Henrys linker – an sich gesunder – Vorderlauf ist nach innen zum Brustkorb verlagert, das Ellenbogengelenk durch die Fehl- und Überbelastung geschwollen. Im Alter von einem Jahr bekam der Rüde seine erste prothetische Versorgung. Diese ersetzt seine Pfote zumindest teilweise und ermöglichte es ihm, zu rennen und zu springen.
Durch eine neue Art von Prothese sollen in Zukunft diese negativen Auswirkungen auf andere Gliedmaßen in Schach gehalten werden. Ähnlich einer Unterarm-Eigenkraftprothese beim Menschen übersetzt ein ausgeklügeltes System an Streben die Bewegung aus dem Vorderlauf. Eine künstliche Pfote ermöglicht mehr Funktionalität beim Gehen, Laufen und Springen. In Zusammenarbeit mit der FH Technikum Wien entwickelt das Team von Schnabl-Feichter mit einer Orthopädietechnik-Firma diese neuartige Eigenkraftprothese für Hunde in einer Studie mit fünf Patienten.
Für die prothetische Versorgung ist jedoch das gesunde Ellenbogengelenk unabdingbar. „Die Prothese wird über das intakte Gelenk gesteuert“, erklärt FH-Student Dominik Schneeberger das Prinzip des Systems und zeigt dies an einem Modell vor: Sobald das Ellenbogengelenk bewegt wird, bewegt sich die künstliche Pfote über eine Strebe nach unten. Befestigt wird die Eigenkraftprothese über einen Brustpanzer – um den Druck über den Brustkorb abzulenken, die Belastung von den Gelenken zu nehmen und einen sicheren Sitz am Tier zu gewährleisten. „Außerdem werden dadurch Auflageflächen und die Gefahr von Druckstellen, ein Problem bei vielen Prothesen – sowohl bei Mensch als auch bei Tier – vermindert“, so Schneeberger. Er ist im Rahmen seiner Diplomarbeit innerhalb des Projekts für die 3D-Modellierung am Computer, das Design und die Entwicklung der Eigenkraftprothese zuständig.
Anders als die bisherige Prothese wird Henrys neue Eigenkraftprothese aus dem 3D-Drucker die Bewegung aus seinem Ellenbogen in die Hightech-Pfote übertragen und diese mitbewegen. Credit: Thomas Suchanek/Vetmeduni
Bei Henry werden ausgehend von Röntgen- und CT-Bildern die gesunde und die teilamputierte Gliedmaße genau vermessen und die Prothese individuell gefertigt. Zusätzlich wird von Orthopädietechnikern ein Gipsabdruck angefertigt und schließlich anhand des 3D-Modells die Eigenkraftprothese inklusive Brustpanzer mittels 3D-Druck individuell erstellt. Aber, wie gut wird die Prothese vom Hund angenommen und wie natürlich kann er im Alltag damit umgehen? Henrys Prototyp wird zeigen, ob Theorie und Wissen aus der Humanmedizin auch auf Hunde übertragbar sind.
In einem zweiten Schritt wird die Prothese noch einmal neu gedruckt – mittels Pulververfahren, wieder direkt auf Henry zugeschnitten. „Das ist der Beginn einer großen Sache“, sagt Eva Schnabl-Feichter und deutet auf das Modell der neuen Prothese. Wenn alles klappt, wäre später sogar eine computergesteuerte Prothese für Hunde denkbar, die ein fehlendes Gelenk ersetzen kann. In der Humanmedizin wird so etwas C-Leg genannt, ein mechatronisches Kniegelenk, das bei der Version für Hunde den Ellenbogen nachahmen könnte.
„Menschen sind natürlich leichter in der Kommunikation und können sofort rückmelden, wenn etwas drückt, unausgeglichen oder unangenehm ist – und vor allem wo“, setzt technischer Leiter Martin Petraschka hinzu. Die kooperierende Firma Kerkoc ist eigentlich auf Orthopädietechnik und Bandagen im Humanbereich spezialisiert und erst vor drei Jahren in die Versorgung von Tieren eingestiegen. „Seither konnten wir mehr als 500 Hunden durch Bandagen oder Prothesen helfen“, so Orthopädietechnikerin Hannah Dorn.
Auch bei Tieren hilft Physiotherapie bei Schmerzen am Bewegungsapparat – deshalb ist auch das Team um Fachtierärztin Barbara Bockstahler in Henrys Behandlung eingebunden. Die Tierphysiotherapeuten analysieren anhand von Tests die jeweilige Gewichtsverteilung auf die vier Pfoten ihrer Tierpatienten und erstellen anschließend Gangbilder sowie Behandlungs- und Trainingspläne, um Fehlbelastungen auszugleichen.
Seit zweieinhalb Jahren wird Henry bereits durch eine Prothese unterstützt, die von Kerkoc hergestellt wurde. Aus dem dortigen Team sind zwei Techniker für Henrys Termin in der Kleintierklinik anwesend und begutachten die beiden Prothesen, die Henry zurzeit im Wechsel verwendet: eine einfache graue und eine mit roten und schwarzen Ornamenten versehene weiße. „Einen Tag klappt es besser mit der neuen Prothese, am nächsten mag er nur mit der alten laufen“, berichtet Besitzerin Tina Sigala. Zusätzlich habe sie einen Wagen angeschafft, in den der Belgische Schäferhund beim Spaziergang springen könne. „Das nutzt er sehr gerne. Schwupps, liegt er dort drin und wartet, dass ich ihn nach Hause ziehe, wenn er genug erkundet hat“, setzt sie lachend hinzu.
Im Bewegungsanalyse-Labor soll seine Besitzerin Henry schließlich ein paar Mal ohne und ein paar Mal mit Prothese im Schritttempo über die Messplatte führen. Eine Videokamera zeichnet das Ganze auf, die Messplatte registriert den Druck und erstellt am PC ein Gangbild anhand der Belastung seiner drei Pfoten bzw. der Prothese. Gestartet wird ohne Prothese, die sich Orthopädietechnikerin Hannah Dorn in der Zwischenzeit genau anschaut. Die Anspannung aller im Raum sinkt merklich, als Henry schließlich in seine Prothese schlüpfen darf, die mit Klettverschlüssen am Vorderlauf festgeschnallt wird. Ein erneuter Durchgang steht an und obwohl die Prothese ein hörbares „Klock, tapp, klock, tapp, klock, tapp“ auf dem Gummiuntergrund erzeugt, scheint dies Henry nicht zu stören, und er läuft mit neuer Energie neben seiner Besitzerin her.
Sofort ist erkennbar, was Veterinärmedizinerin Schnabl-Feichter meint, wenn sie sagt: „Lebensqualität steigern und Gelenke entlasten“ – insbesondere bei großen Tieren. Henry wiegt ohne Prothese etwa 35 Kilogramm, „jedes Gramm weniger kommt seinen Gelenken zugute“, bemerkt die Tierärztin, während sie Henry beobachtet. Sein linker Vorderlauf stellt sich durch die Prothese sofort vertikaler und der Rüde legt an Tempo beim Laufen zu. Nach fünf Minuten ist auch die Ganganalyse mit Prothese „im Kasten“ und Henry ist für heute entlassen. Ein CT-Bild gibt es bereits, das für die Erstellung des Prothesenmodells verwendet werden kann.
„Unser Ziel ist die Bewegung beim Spaziergang“, sagt Schnabl-Feichter mit einem Blick auf Henry. „Bei Traumata durch Unfälle und angeborenen Missbildungen haben wir unterschiedliche Möglichkeiten, in welcher Höhe wir amputieren. Eine neue prothetische Versorgung kann uns hier helfen, gleich während des chirurgischen Eingriffs die zukünftige Mobilität des Tieres im Blick zu behalten.“
Generell ist die Prothetik im Tierbereich noch stark ausbaufähig, sind sich die Orthopädietechniker einig. Vor allem, weil bei Tieren eine Integration in den Knochen häufig zu Komplikationen durch Infektionen führt. „Einem Menschen kann ich begreiflich machen, dass Schmutz rund um den Übergang schwierig ist und zu Entzündungen führen kann, einem Tier nicht“, sagt Schnabl-Feichter. Auch Henry liebt es zu schwimmen und geht mit seiner Prothese ins Wasser. Eine neue Schwimmweste unterstützt den Belgischen Schäferhund dabei. „Alles, was wir jetzt machen, ist nicht nur für Henry, sondern auch für nachfolgende Hunde“, ist sich Tina Sigala sicher. „Wenn wir beim Spazieren nicht jemanden getroffen hätten, der uns für die Prothese weiterverwiesen hat, wären wir jetzt nicht hier – und Henry vielleicht schon nicht mehr da.“
Der Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung der Vetmeduni Wien.
Bildquelle: Richard Brutyo, unsplash