Gesunde Ernährung – das ist doch gut! Nicht immer: Orthorexia nervosa ist eine Essstörung, bei der Patienten ausschließlich gesunde Lebensmittel zu sich nehmen. Wie kann das eine Störung sein?
Aktuell ist Orthorexia nervosa (ON) keine eigens klassifizierte Essstörung. Ob sie aber als solche gelten sollte, darüber berichtete Dr. Friederike Barthels beim DGVM-Kongress. „Patienten, die an Orthorexia nervosa leiden, bauen sich ihre ganz eigene Theorie zusammen, was gesunde und ungesunde Lebensmittel sind – und konsumieren dann nur die Lebensmittel, die sie für gut genug befinden. Dass kann, natürlich sehr patientenabhängig, zu einem mehr oder weniger gesundem Essverhalten führen“, erklärt Dr. Barthels.
Orthorexie-Patienten entwickeln eine pathologische Fixierung auf von ihnen in subjektiver Sichtweise als gesund klassifizierte Lebensmittel und deren Auswirkung auf die eigene Gesundheit. Wie auch bei anderen Essstörungen, kommt der Leidensdruck besonders durch das ständige gedankliche Beschäftigen mit Essen und die Einhaltung selbstauferlegter Ernährungsregeln zustande. Außerdem kann es durch die einseitige Ernährung und die strengen Regeln leicht zu Mangel- oder Fehlernährung sowie zur sozialen Ausgrenzung kommen.
Ein Störungsbild wird laut Barthels häufig durch folgende Kriterien identifiziert:
Orthorexia nervosa erfüllt all diese Bedingungen. Ein Review kam jedoch zu dem Schluss, dass eine Abgrenzung zwischen gesundem Essverhalten und ON sehr schwer zu ziehen sei – und eine (noch nicht vorhandene) genaue Definition des Krankheitsbildes essenziell für eine Klassifizierung als ein solches sei.
Ein weiteres Review bestätigt: Aktuell ist ON wegen geringer empirischer Evidenz nicht als eigenständiges Störungsbild zu klassifizieren. „Es gibt zwar einige Studien, die Orthorexia nervosa als eigenes Störungsbild zeichnen, ebenso zeigen Studien, dass ON Stress, Angst und Verstimmungen auslösen kann. Allerdings gibt es aktuell einfach zu wenige klinische Studien und empirische Evidenz, um die Klassifizierung als eigenes Störungsbild rechtfertigen zu können“, ergänzt Barthels.
Obwohl ON nicht als selbstständiges Störungsbild, sondern häufig als Subtyp der Anorexie angesehen wird, ist der Begriff den meisten Fachkräften bekannt. In unterschiedlichen Befragungen von psychotherapeutischem, ärztlichem, alternativ- und komplementärmedizinischem Fachpersonal sowie Ernährungsfachkräften gaben 40–70 % an, in der klinischen Praxis mit Personen mit Verdacht auf ON oder orthorektischem Essverhalten zu tun zu haben. „Interessant ist hier allerdings, dass das orthorektisches Essverhalten selten als Hauptsymptom auftritt. Vielmehr scheint es in Kombination mit typischen oder atypischen Störungen und Verhaltensweisen aus den Bereichen der Ess- und Zwangsstörungen einherzugehen“, so Berthels. Es stellt sich aufgrund der klinischen Relevanz also die Frage, ob ON – wenn sie schon kein eigenes Störungsbild ist – eine eigene Essstörung sein könnte?
Orthorexia nervosa kombiniert typische Verhaltensweise unterschiedlicher Störungsbilder – und ist wahrscheinlich deshalb auch so schwer zu fassen. Während die kognitive Fixierung auf Ernährung, starke Selektion der Nahrung und die Reduktion erlaubter Lebensmittel klassische Verhaltensweisen einer Essstörung sind, weisen das Aufstellen von strengen Ernährungsregeln, Zubereitungsrituale und Angstzustände bei Nichteinhaltung – wie auch bei anderen Essstörungen üblich – auf ein Zwangsverhalten hin. Bei ON kommen jedoch zusätzlich krankheitsängstliche Verhaltensweisen hinzu. So fürchten die Patienten oftmals, durch ungesunde Ernährung krank zu werden und beschäftigen sich eindringlich mit körperlichen Vorgängen und Funktionen.
„Orthorektisches Essverhalten scheint bei Zwangspatienten gegenüber anderen Störungen und gesunden Patienten nicht erhöht zu sein, ist allerdings bei Essstörungspatienten stärker ausgeprägt im Vergleich zu gesunden Menschen. Außerdem zeigen Personen mit hohen Orthorexie-Werten mehr krankheitsängstliche Sorgen sowie eine stärkere Fixierung auf den Körper“, ergänzt Berthels. Orthorektisches Essverhalten ist also in der Nähe anderer Essstörungen einzuordnen.
Aktuell gilt ON auch nicht als eigenständige Essstörung. „Aufgrund der Definition und der Diagnosekriterien für Essstörungen könnte Orthorexia nervosa entweder als eigene Essstörung oder aber als Subtyp der Anorexia nervosa angesehen werden, weil es hier fließende Übergänge gibt. Zukünftige Forschung sollte sich damit beschäftigen, Orthorexie, Anorexie und wahrscheinlich auch Zwangsstörungen besser voneinander abzugrenzen“, so Berthels. Klinisch würde man eine ON momentan wahrscheinlich als atypische Anorexia nervosa diagnostizieren. „Jedenfalls sollte behandelndes Fachpersonal sehr genau auf die Differentialdiagnose achten und sich fragen, ob beispielsweise bei einer Anorexie-Diagnose nicht auch orthorektisches Essverhalten vorhanden ist“, konkludiert Berthels.
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