Ein Mann bricht mit starken Kopfschmerzen zusammen und wird in die örtliche Kleinstadt-Klinik gebracht. Dort kann er nicht adäquat versorgt werden – aber sieben angefragte Kliniken sind schon voll.
Ich erinnere mich sehr gut an die Übernahme eines Patienten aus einer ländlich gelegenen Klinik der Grund- und Regelversorgung. Der etwa 50-jährige Fahrschullehrer habe morgens über stärkste Kopfschmerzen geklagt und sich daraufhin selbständig in die Klinik begeben. Er wurde – da sonst unauffällig – zunächst mit Schmerzmitteln nach Hause geschickt. Mittags sei er dann in häuslicher Umgebung zusammengebrochen und daraufhin erneut in die Klinik gekommen. Ihm wurde Blut abgenommen, ein EKG geschrieben und nach erneuter ärztlicher Sichtung schließlich ein CT angemeldet.
Auf dem Aufkleber steht „13:10 Uhr“, der Zeitpunkt der Aufnahme. Das CT ist von 15:30 Uhr. Es sei sehr voll gewesen, viele Krankmeldungen, das Übliche. Der Patient kam letztlich um 21 Uhr in unserer Klinik an, mit bereits sehr deutlichen Zeichen des Hirntods. Wir versuchten, ihn mit allen Mitteln zu retten. Letztlich blieb uns aber nach kurzer Zeit nichts anderes übrig, als mit den Angehörigen über die Option einer Organspende zu reden.
Wir können es nicht beweisen, aber es steht zu vermuten, dass man diesen Patienten hätte retten können, wenn er sofort – oder zumindest unmittelbar nach dem Ereignis – zu uns gekommen wäre. In der abgebenden Klinik habe man wohl zunächst versucht, den Patienten zu stabilisieren und parallel wohl mit insgesamt sieben Kliniken Kontakt aufgenommen, die den Patienten alle abgelehnt hätten.
Wie kann sowas sein? Ist das strafbar? Hat es Konsequenzen? Die traurige Antwort ist: Das ist mittlerweile ganz normal geworden.
Wenn man notfallmäßig in eine Klinik muss, werden zwei Fragen sofort geklärt:
Und es gibt nur eine einzige, wirklich gefährliche Konstellation: der akut lebensbedrohliche Notfall, den man nicht vor Ort behandeln kann. Alles andere kann man ja entweder vor Ort oder ohne Zeitnot lösen. Aber unter Zeitnot ein medizinisches Problem lösen, was vor Ort nicht versorgt werden kann, ist eine Katastrophe.
Wieso kommen Patienten überhaupt in Kliniken, in denen ihnen nicht geholfen werden kann? Nun, die wenigsten Kliniken können „alles“ versorgen. Meist gibt es nur eine innere Medizin, eine allgemeine Chirurgie und eine Unfallchirurgie und ein paar andere Fächer. Spezielle Kliniken wie z. B. eine Kinderchirurgie, Herzchirurgie oder Neurochirurgie (oder auch z. B. HNO, Urologie) gibt es nur in größeren Kliniken oder Unikliniken.
Theoretisch könnte man also immer alle zuerst in die Uni fahren. Würde man das aber tun, wären die Patienten a) in den meisten Fällen erstmal sehr lange unterwegs und würden dort b) alles verstopfen – mit Migräneattacken, Blähungen bei Verstopfung und so weiter.
Weil man im Rettungsdienst nur wenige diagnostische Möglichkeiten hat, stellt man dort eine Verdachtsdiagnose (z. B. „Migräneattacke“ oder „Kopfschmerz unklarer Genese“) und fährt mit dem RTW meist das nächste geeignete Krankenhaus an. Zum Beispiel eines mit Neurologie oder, wenn es ganz besonders ländlich ist, erstmal eine Klinik, die zumindest ein CT hat. Dort wird dann die Diagnostik erweitert und manchmal ist der Kopfschmerz nicht bloß eine Migräneattacke, sondern sehr selten z. B. eine Hirnblutung. Ein akutes, neurochirurgisch zu behandelndes Problem, welches unbehandelt oder zu spät behandelt zum Tod führen kann.
Und wenn man dann da, sagen wir mal, im katholischen Krankenhaus in einer Kleinstadt liegt, hat man als Patient (und diensthabender Arzt ebenfalls) ein echtes Problem.
Früher (so vor 10–15 Jahren) konnte man bei einer solchen Diagnose ganz einfach die nächste größere Klink anrufen: „Hier ist Frau Müller, tSAB im CT gesichert, GCS 7, kommt beatmet.“ Da war höchstens noch die Frage: „Über den Schockraum oder direkt in den OP?“ Oft haben die Kollegen vor Ort sogar zuerst den Rettungsdienst für die Weiterverlegung alarmiert und dann in der Zielklinik Bescheid gesagt. Ja, man hat Bescheid gesagt. Es war mehr eine Formalie. Es war klar, dass diese Patientin hier vor Ort in der Kleinstadt nicht versorgt werden kann, also wurde sie natürlich (!) in die Großstadt zum Maximalversorger verlegt.
Für den seltenen Fall, dass die Klinik in der Großstadt gerade mehrere Notfälle parallel versorgen musste, hat man in Großhausen angerufen und die Patientin dann eben dahin verlegt. Das war nie ein Problem.
Irgendwann fing es dann an, dass man die Patientin nicht mehr in die Klinik A oder B verlegen konnte, sondern immer häufiger auch mal in C oder D oder, wenn es ganz wild kam, sogar mal in E anrufen musste. Darüber wurde dann in der Frühbesprechung berichtet. Aber – alles nochmal gut gegangen.
Was viele nicht wissen: Keine Klinik ist verpflichtet, einen Patienten aufzunehmen, der bereits in einer anderen Klinik versorgt ist. Jetzt kann man sagen – versorgt? Ist es nicht eher nur ein „Verwahren“? Wenn man die Krankheit in Kleinstadt X nicht versorgen kann, dann ist das doch keine adäquate Therapie?
Früher stellte sich diese Frage nicht. Die Patienten wurden natürlich übernommen, alles andere wäre ethisch und moralisch unvertretbar gewesen. Aber heute? Da kann es unter Umständen echt schwierig werden und das geht ungefähr so: Die Dienstärztin aus Kleinstadt X ruft also in Großstadt Y an der Uni an und lässt sich über die Pforte (Warteschleife, Coronahinweise, Wartemusik …) mit dem diensthabenden Kollegen der Neurochirurgie verbinden. Sie schildert die Befunde, der Kollege macht sich Notizen. Er möchte den Fall mit seiner Oberärztin besprechen. Man schickt die Bilder (Teleradiologie! digital!) und die Laborbefunde sowie den letzten Entlassungsbrief mit Vorerkrankungen (Fax, juhu ...) und wartet auf den Rückruf. 15 Minuten später oder so: Absage, hausinterner Notfall, keine Kapazität.
Tja, kann man nichts machen. Also nächstes Haus anrufen, wieder mit dem diensthabenden Arzt verbinden lassen, wieder die Rücksprache abwarten, nächste Absage und so weiter. Jede Anfrage dauert 20–30 Minuten mit dem ganzen Hin und Her. In der Zeit blutet unsere Patientin munter weiter in den Kopf, mit all den fatalen Folgen. Das Gleiche gilt für eingerissene Hauptschlagadern, verschlossene Herzkranzgefäße, verschlossene Hirngefäße und so weiter. Wir sagen: Time is Brain. Mit jeder Minute, die verstreicht, verlieren wir Hirnmasse, Selbständigkeit, Mobilität. Ein paar Minuten können den Unterschied zwischen Rückkehr in ein normales Leben und dauerhafter Pflegebedürftigkeit ausmachen.
Diese Dinge geschehen hier und jetzt in Kliniken im ganzen Land. Hier ein Beispiel von Twitter, in dem ein Arzt Ähnliches berichtet:
Sollte der Tweet nicht angezeigt werden, bitte die Seite neu laden.
Das unfassbare Ausmaß menschlicher Tragik dahinter sollte jedem bewusst sein. Davon ab kann man so außerdem eine Menge Kosten vermeiden (durch Erhalt der Selbständigkeit) oder verursachen (durch dauerhafte Pflegebedürftigkeit). Alles, was wir also in die Rettung und die schnellstmögliche, bestmögliche Versorgung investieren, kommt uns doppelt zu Gute! Nämlich den Patienten selbst und uns als Gesellschaft.
Aber die Schere geht auch da in den letzten Jahren immer weiter auseinander. Immer häufiger werden Patienten abgelehnt. Keine Kapazität, sorry. Keine Betten frei. Keine Erstversorgung möglich, OP läuft schon doppelt parallel.
Was nicht geht, geht nicht. Notfall hin oder her. Es muss ja auch ein Team geben, was diese Menschen versorgt. Die können ja nicht irgendwo auf dem Flur rumstehen. Und meist handelt es sich um sehr komplex erkrankte Patienten, die beatmet werden müssen, mehrere Spritzenpumpen mit kreislaufunterstützenden und narkoseerhaltenden Medikamenten benötigen. Da braucht es ein Team von 8–10 Spezialisten, um diese Menschen in eine geeignete Klinik zu transportieren und zu versorgen.
Und während wir einerseits immer mehr Notfälle zu versorgen haben, gibt es immer weniger Personal, welches das leisten kann. Keine gute Entwicklung, aber wenn man ehrlich ist, auch keine Überraschung.
Bildquelle: Mahdi Bafande, unsplash