Die Pandemie ist zu Ende – so verhält sich Deutschland zumindest. „Wir müssen es ja alle mal bekommen, das kann man gar nicht verhindern.“ Solche Aussagen sind so dumm, dass es mir körperliche Schmerzen bereitet.
Die Desinformation in der Allgemeinbevölkerung ist so tief eingesickert, ich halte das im Kopf nicht aus. Wenn man den Mut und die Kraft aufbringt und mal die Ohren aufstellt, ist es unfassbar, was sich da in der Breite der Bevölkerung festgesetzt hat. Wenn das alles der Erfolg von Putins Fakenews-Trollen ist, dann haben die aber gründliche Arbeit geleistet. Eine solide Basis Dauernörgerlei der Springerpresse über jede Maßnahme, dazu monatelange Verzerrung wissenschaftlicher Standpunkte durch 1:1-PLURV in den Talkshows des ÖR – abgeschmeckt mit einer soliden Portion Buschmann, Kubicki und Söder. Und jetzt denkt die Bevölkerung, Corona wäre vorbei.
Dabei erleben wir die vielleicht gefährlichste Phase. Die Bevölkerung ist Pandemiemüde und es sind gefährliche Desinformationen eingesickert. Völlig frei von jeder Evidenz wurden Unwahrheiten so lange verteilt, Experten in Frage gestellt und Maßnahmen kritisiert, bis am Ende nur noch eine trübe Suppe aus Halbwahrheiten und Meinungen übrig blieb.
„Ich habe ja Corona schon gehabt, ich bin damit durch.“
„Wir müssen es ja alle mal bekommen, das kann man gar nicht verhindern.“
„So schlimm ist das ja auch nicht mehr.“
Bei solchen Parolen wird völlig außer Acht gelassen, dass die schiere Anzahl erkrankter Mitarbeiter ein echtes Problem für die Infrastruktur ist. Züge fallen aus, Busse fahren entweder gar nicht oder in gröberer Taktung. Im Supermarkt fehlen Verkäufer, die Frischetheken sind hier nur noch vormittags besetzt. Meist sind nur 1–2 Kassen auf, obwohl sich die Leute bis in die Mitte des Ladens zurück stauen.
Niemand trägt eine Maske. Weil destruktive Meinungsmacher so lange an der Sinnhaftigkeit der Maske rumgemäkelt haben, bis nichts mehr davon übrig blieb. Dabei ist es genauso dumm wie fahrlässig zu meinen, dass eine FFP2-Maske nicht gegen eine Infektion mit SARS-CoV-2 schütze. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass eine FFP2-Maske schützt. Wenn man sie unterm Kinn trägt, kann sie natürlich nicht schützen. Statt in vernünftige Aufklärung zu investieren und die Menschen zu ermutigen, passende Masken zu tragen, wurde aber so lange in kartoffelig deutscher Manier daran rumgemäkelt, dass bei vielen der Eindruck entstand, dass Masken wirklich nichts bringen. Das ist so dumm, es bereitet mir körperliche Schmerzen.
Erst heute musste ich wieder mit einem Angehörigen diskutieren. Ob er den „Fummel“ unbedingt anbehalten müsse, oder ob er ihn ausziehen könne. Wir wären ja schließlich unter uns. Ich atmete kurz durch, schloss die Augen. Ich glaube, er wusste was kam. Ich sah ihn scharf an und fragte ihn, ob ihm was an der Behandlung seiner Frau liegen würde? Ob er wolle, dass sie wieder gesund werde? Er bejahte vehement. Was das für eine dumme Frage sei, er liebe seine Frau.
Ich sagte ihm, dass seine Frau im Moment 24 Stunden am Tag 100 % abhängig von einem Team aus drei Pflegekräften, einer Physiotherapeutin und mehreren Ärzten ist. „Einer von denen sitzt vor Ihnen und Sie wollen nicht, dass ich zwei Wochen ausfalle.“
Wir fahren auf der allerletzten Rille, wir brauchen hier jede und jeden. Wir können es uns nicht leisten, wenn auch nur eine oder einer krank wird, dann hat das direkte Konsequenzen für die Versorgung der Menschen auf dieser Station, in diesem Krankenhaus, in dieser Stadt und den umliegenden Dörfern. Ob er das verstehen würde, dass es hier um ein bisschen mehr gehe?
Wann sind Menschen so egoistisch geworden? Wie kann man denn nicht sehen, dass es hier um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe geht? Ich glaube, es ist nicht weniger als die vielleicht größte gemeinschaftliche Anstrengung seit den Trümmerjahren. Und manche tun so, als wenn ihr pseudrebellischer Kampf gegen Coronamaßnahmen ein „Früher“ zurückbringen könnte – und dann wäre alles wieder gut.
Herrje, wir denken uns das doch nicht aus! Seht ihr denn nicht, was hier passiert?
Ich hadere mit dieser gesellschaftlichen Entscheidung Corona zu bagatellisieren. Der Wunsch nach Spaß und Gemeinschaft ist nur zu verständlich, aber es wird so nicht funktionieren. Und des einen Bierzelt und Spaß, ist des anderen Trauer und Beerdigung. Glaubt ihr nicht? Es ist gar nicht so abstrakt.
Schaut mal nach München, es war alles da. Die Infektionszahlen vor, während und nach dem Oktoberfest. Die massiven Personalausfälle an der LMU. Die verschobenen OPs, die abgesagten Übernahmen. Kleinere Kliniken von extern fragen die Uni an, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Aber die Uni kann immer öfter nur noch absagen. Alle wissen, was das für die Patienten in diesen kleinen Häusern heißt. Es gibt ja einen Grund, warum die anrufen und um Übernahme bitten. Die sind überfordert, sie brauchen Hilfe oder apparative Lösungen (ECMO, MARS etc.), wie es sie nur an Unikliniken gibt.
„Kein Personal, Betten gesperrt, versuchen Sie es gerne morgen nochmal oder wenden Sie sich bitte an eine andere Klinik“. Die Verzögerung einer Therapie bedeutet für die meisten Menschen den sicheren Tod. Sie sterben unter sogenannter Maximaltherapie einen leisen Tod in ihrer kleinen Klinik. „Wir haben alles für ihre Mutter getan. Sie hat es leider nicht geschafft“.
Politiker wie Söder und alle Nutznießer der Wiesen verschließen die Augen vor der Realität, aber die Realität ist da und man kann sie auch nicht verleugnen. Ohne die Wiesn hätten wir weniger Infektionen, weniger ausgefallenes Personal und hätten dabei mehr Menschen helfen können. Statt sinnvolle Hygienemaßnahmen auf breiter Basis zu etablieren, lügen sich erwachsene Menschen gegenseitig in die Tasche um sich in einer Normalität zu bekräftigen, die es so gar nicht gibt.
Ich bin mir noch nicht sicher, ob die Allgemeinbevölkerung ein Opfer der Desinformation ist oder ob sie eine Mitschuld durch Müdigkeit und Akzeptanz der Durchseuchung trifft. Diese Frage ist nicht unerheblich, hängt doch ein entscheidender Teil meiner Motivation daran.
Wurde die Bevölkerung beschissen, trifft sie keine Schuld. Kommen wir nun mehr und mehr in die Bredouille entscheiden zu müssen, wem wir helfen, macht mich das in dem Fall stark, die letzten Kräfte zu mobilisieren, um möglichst viele Menschen retten zu können. Ist die Bevölkerung aber mit Schuld an dieser Misere, dämpft das meinen Willen mich erneut – in einem dritten Winter – gegen die Pandemie zu stemmen ganz erheblich.
Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beiden. Die deutsche Bevölkerung wurde von Meinungsmachern verführt, aber sie hat sich auch nur allzu gerne das erzählen lassen, was bequemer ist. Ich habe das Gefühl, viele wollen einfach auch glauben, dass es vorbei ist.
Ich bin mir noch nicht sicher, wo mein Platz im dritten Coronawinter in der Klinik ist. Die Motivation ist auf einem Tiefpunkt und die fachliche Qualifikation der Kollegen ist es auch. Es fehlt an gut ausgebildetem, pflegerischem und ärztlichem Personal. Lehre und Ausbildung haben in den letzten zwei Jahren massiv gelitten – die Auswirkungen sind sehr deutlich spürbar. Auch das wird den Herbst/Winter 2022/2023 beeinflussen. Ich bin aber auch so ehrlich, dass ich sage, dass ich mich nicht mal mehr aufraffen könnte, wenn ich wollte. Es fehlt die Kraft, es fehlt die Perspektive.
Wieder und wieder lässt man den Karren mit Schmackes in den Dreck sausen und wir sollen ihn rausholen. Kann ich mich nicht mehr für begeistern. Ich komme nicht umhin zu sagen, dass man sich in der Klinik ein wenig veralbert vorkommt.
Bildquelle: Brett Sayles, pexels