Nein, noch wälzen sich keine erstickenden oder verblutenden Patienten vor den Kliniken. Aber die Überlastung des Gesundheitssystems ist da – sie sieht nur nicht spektakulär aus.
In den Medien wurde davon gesprochen, dass Herbst und Winter schwierig werden können und ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems verhindert werden muss.
Werden.
„Werden“ bedeutet, von einem Zustand in einen anderen Zustand zu kommen. Dieses Wort wird immer dann benutzt, wenn man ein Zukunftsszenario skizziert, das verhindert werden soll.
Es suggeriert, dass aktuell noch alles okay ist, aber in Zukunft unter einer zunehmenden Belastung Probleme entstehen könnten. Diese Formulierung verleugnet aber etwas grundlegend Falsches: Wir waren und sind längst bei einer Überlastung angekommen. Es wird nicht so schnell zu Bildern von Patienten kommen, die sich erstickend vor der Klinik auf dem Boden wälzen. Unterversorgung findet heimlich, still und leise im Verborgenen statt.
Es sind im ambulanten Bereich Patienten, die ewig in ihren eigenen Ausscheidungen liegen, nicht gelagert werden und todesschmerzhafte Druckstellen entwickeln.
Das sind Patienten mit einer Hautveränderung, die sie kontrollieren lassen wollen, aber beim Hautarzt erst beim 120. Anruf durchkommen, um dann einen Termin für Mitte nächsten Jahres zu erhalten. Das sind Patienten, die umziehen und sich einen Hausarzt suchen, aber nirgendwo angenommen werden, weil überall Aufnahmestopp gilt. Das sind Patienten mit psychischen Erkrankungen, die 1 bis 2 Jahre auf einen Therapieplatz warten und in der Zwischenzeit anderweitig dekompensieren.
Das sind im Rettungsdienst Patienten, die eigentlich 4 Minuten in die nächstgeeignete Klinik gebracht worden wären, aber aufgrund von Bettenmangel quer durchs Ruhrgebiet gefahren werden müssen. Das sind in der Notaufnahme Patienten mit einem gebrochenen Bein, die 6 Stunden und länger auf die weitere medizinische Versorgung warten, weil ein Beinbruch eben nicht lebensbedrohlich ist und deswegen warten muss.
Das sind im OP Patienten, deren Gallenblase nicht operiert werden kann, weil es nicht genug Kapazitäten gibt und deren OP dann schließlich abgesagt wird. Die dann im Verlauf einen Steinabgang haben, der den Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse verstopft, was zu einer akuten Bauchspeicheldrüsenentzündung führt, an der immerhin je nach Schwere 1–15 % der Patienten versterben.
Das sind auf den Intensivstationen Patienten, die falsche Medikamente in falscher Dosierung erhalten, weil die Pflegekraft einfach mal erst letzten Monat Examen gemacht hat und direkt 4 Patienten betreuen soll. Es sind Patienten, die seit Stunden im Nierenversagen sind und deren Beatmung grottenschlecht eingestellt ist, weshalb sie als nächstes ein Lungenversagen bekommen, weil die Pflegekraft es aufgrund ihres Ausbildungsstatus nicht merken kann.
Das sind Ärzte, denen gesagt wird: „Du machst den Dienst“, obwohl sie aufgrund ihres Ausbildungsstatus überhaupt noch nicht dienstfit sind. Weil aber niemand sonst da ist und weil da eben irgendein Name in der Dienstplanspalte stehen muss, bekommen sie dann morgens drei Telefone in den Kasack gestopft, einen Klopfer auf die Schulter und den Hinweis: „Kinder lernen im tiefen Wasser schwimmen“ oder „Unter Druck entstehen Diamanten“.
Ja – oder es sterben eben Menschen.
Und das ist weit weniger spektakulär, als man es so annimmt. Alte Menschen haben schon mal gar keine Lobby. Wer alt und chronisch krank ist – naja, der kann eben auch mal sterben. Ihr glaubt doch nicht, dass irgendjemand von den Angehörigen mal nachfragt, ob es so eine clevere Idee war, am Montag die Gastro, Dienstag die Colo und Mittwoch die OP zu machen? Da war das Nierenversagen absehbar, die postoperativen Komplikationen lesen sich wie eine schicksalhafte Aneinanderreihung von unvermeidlichen Ereignissen. Dabei führt erst der enorme Kosten- und Effizienzdruck dazu, dass Untersuchungen bei alten Leuten in viel zu enger Reihenfolge durchgeführt werden müssen – mit entsprechenden Kollateralschäden.
Die Angehörigen sehen nicht diese Zusammenhänge, die selbst für Mediziner nur bei genauer Betrachtung ersichtlich sind. Der Weg von der Unterversorgung zum Todesfall ist abstrakt, aber greifbar.
Hier erleiden Menschen dauerhafte Schäden bis zum Tod, weil wir sie nicht mehr adäquat behandeln. Weil wir nur noch oberflächlich und schnell die Symptome abhandeln, statt auf Ursachensuche zu gehen.
Das fühlt sich übrigens auch als Arzt extrem schlecht an. Zu wissen, dass eine Komplikation absolut vermeidbar gewesen wäre, kann einen lange verfolgen. Das nimmt man dann mit nach Hause und weiß doch, dass man es sowieso nicht hätte verhindern können. Nicht mit dem Personalmangel, nicht mit den Problemen in den beteiligten Fachabteilungen, nicht mit dem brutalen Zeitdruck und dem hohen Workload.
Es ist eine unschaffbare Aufgabe und das macht uns krank.
Anmerkung in eigener Sache: Oft lesen sich meine Texte destruktiv und depressiv. Mir helfen sie aber, weil ich denke: „Vielleicht liest es jemand, der was daran ändern kann.“ Außerdem hilft es mir, Dampf abzulassen. Es ist meine kleine Selbsthilfegruppe mit mir selbst. Ich schreibe das, dann ist es raus. Dann kann ich es abhaken.
Es ist zum Glück auch nicht alles schlimm. Wir haben bei uns im Team alle einen sehr schwarzen Humor. Wir lachen viel, auch über absurde Situationen – welche sich teilweise erst aus dem konstanten Mangel an Allem ergeben. Aber es tut gut, nicht alleine zu sein und die Kollegen hier sind eine Bank. Viele sind mir wichtige Freunde geworden.
Zu wissen, dass, wenn wir gehen, niemand mehr da ist, spornt uns jeden Tag an, eben doch hier zu bleiben. Das schweißt zusammen und macht Mut, wenn man ganz verzweifelt ist und alles hinschmeißen will.
Ich war schon mehrmals kurz davor, alles zu schmeißen und immer dann wurde mir klar: Ich habe keine Alternative. Ich liebe die Medizin, das Blaulicht, die teils extremen kognitiven Herausforderungen. Das alles würde mir fehlen. Deshalb bleibe ich und ab und zu schütte ich hier das aus, was mir auf dem Herzen liegt.
Danke fürs Lesen.
Bildquelle: Joshua Fuller, unsplash