DIABETES-KLARTEXT | Ist die Insulin-Therapie bei Typ-2-Diabetes obsolet? Und wo sollten Ärzte zuerst ansetzen: Lifestyle-Änderungen oder medikamentöse Intervention? Ihr habt gefragt, unsere Expertin Dr. Monica Negrean lieferte Antworten.
In der aktuellen Sprechstunde von DocCheck Experts ging es um das Thema Diabetes. Das Gespräch mit dem Experten fand auch diesmal wieder als Live-Stream via Zoom statt. Mertcan Usluer hat das Ganze moderiert und eure Fragen an unsere Expertin Dr. Monica Negrean gestellt. Hier kommt der zweite Teil unserer Reihe, in dem es um die Behandlung von Diabetes geht. Ihr könnt ihn hier nachlesen oder als Video anschauen.
Ein klassisches Therapieschema gibt es nicht. Man hat mittlerweile sehr viel mehr Möglichkeiten den Diabetes zu behandeln als noch vor 20 Jahren. Zum einen hat man die Lebensstilmaßnahmen, die ich schon ein bisschen gestreift habe. Ein älteres Diabetes-Medikamente ist Metformin. Das ist alt, aber sehr gut. Da kommen immer neuere Daten raus, wo Metformin hilft – Schutz vor Krebs, Anti-Aging und so weiter. Dann hat man die Sulfonylharnstoffe, die auch schon sehr lange auf dem Markt sind. Die Glinide sind etwas in den Hintergrund geraten. Dann hat man die DPP-4-Inhibitoren, Acarbose spielt nicht mehr so die ganz große Rolle, genauso wie die Glitazone.Und man hat die neueren Medikamentenklassen der SGLT-2-Inhibitoren und die Inkretin-basierten Therapien, vor allem die GLP-1-Analoga. Die SGLT-2-Inhibitoren sind eine Substanzklasse, dazu gehören Phlorizine, Empagliflozin, Dapagliflozin und das sind Substanzen, die dazu führen, dass man über den Urin mehr Zucker ausscheidet. Interessant ist, dass diese Substanzen auch in der Rinde vom Apfelbaum zu finden sind, oder ein Derivat davon.
Was man gesehen hat in großen kardiovaskulären Endpunktstudien, ist, dass diese Substanzen auch bei Herzinsuffizienz sehr gut wirken. Also die Patienten mit Herzinsuffizienz, die diese Präparate bekommen, haben kardiovaskuläre Vorteile, auch was Überleben angeht. Das hat dazu geführt, dass die mittlerweile auch in der Behandlung der Herzinsuffizienz mit reduzierter EF zugelassen sind, unabhängig vom Diabetes. Und zum Zweiten schützten die auch die Nieren, haben also eine nephroprotektive Wirkung, unabhängig von der Blutzuckersenkung.
Die zweite große Klasse, die ich erwähnt habe, sind die GLP-1-Analoga oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten. Das erste Präparat dieser Klasse wurde im Speichel einer bestimmten Eidechsenart gefunden. Das Exendin-4, das wurde dann biotechnologisch hergestellt und weiterentwickelt. Das sind Präparate, die man meistens subkutan spritzt, einmal am Tag, zweimal am Tag oder einmal die Woche, und die zu einer guten Blutzuckereinstellung führen, zu beachtlichen Gewichtsabnahmen und die auch einen schützenden Effekt auf Herz und auch auf die großen Gefäße haben, sowie Schutz vor Herzinfarkt, vor Schlaganfall, und vor Niereninsuffizienz.
Mit dieser Therapie möchten wir ja keine Blutzucker-Kosmetik machen, sondern wir möchten die Folgeschäden vermeiden. Und diese Daten, die ich jetzt kurz erwähnt habe, haben dazu geführt, dass sich die Leitlinien dramatisch verändert haben. Also früher vor 10, 15 Jahren war die Diabetes-Therapie: Erst Lifestyle, dann hat man mit Metformin angefangen, dann hat man eine zweite Tablette gegeben, dann eine dritte und dann irgendwann Insulin. Und jetzt empfehlen die Leitlinien, sowohl die deutschen als auch die internationalen, mit Lifestyle- oder mit Lebensstilveränderungen und Metformin anzufangen und bei entsprechender Risikokonstellation entweder von Anfang an oder ganz früh entweder mit einem SGLT-2-Inhibitor oder mit einem GLP-1-Rezeptor-Agonist oder mit beiden anzufangen. Und dann hat man die ganzen anderen Möglichkeiten, die ich aufgeführt habe, auch noch als mögliche Kombinationspartner in späteren Phasen. Man muss sagen, dass Insulin etwas in den Hintergrund geraten ist. Aber: Wir brauchen Insulin. Es ist nicht so, dass man beim Typ-2-Diabetes kein Insulin mehr braucht!
Insulin bei Typ-2-Diabetes ist in den Hintergrund geraten, ja. Tatsächlich durch die neueren Therapien. Es gibt neuere Daten aus Skandinavien, da haben sich die Kollegen aus Schweden Typ-2-Diabetiker bei Diagnose angeschaut und haben versucht, die zu clustern, also nach bestimmten Merkmalen zu klassifizieren. Dann hat man gesehen, dass Typ-2-Diabetes nicht eine Erkrankung ist, sondern es gibt verschiedene Cluster oder verschiedene Typen von Patienten. Es gibt tatsächlich Patienten, die sehr insulinresistent sind, übergewichtig. Dann gibt es aber auch Patienten, die bereits bei Diagnose einen Insulinmangel haben, und die brauchen früh Insulin. Das sind ungefähr 20 %. Die Daten sind auch von den Kollegen aus Düsseldorf reproduziert worden. Das heißt, 15 bis 20 % der Patienten werden relativ früh Insulin brauchen.
Dann weiß man auch aus späteren Stadien, wenn die Patienten schlecht eingestellt sind und wenn man mit den Möglichkeiten, mit den oralen Möglichkeiten plus subkutan GLP-1-Rezeptor-Agonisten, wenn das nicht ausreicht, dann kann man zum Beispiel mit einem Basalinsulin anfangen. Das senkt den Blutzucker und entlastet so die Beta-Zellen. Das kann dazu führen, dass man das Insulin irgendwann wieder absetzen kann. Wir geben zum Beispiel auch Patienten mit Typ-2-Diabetes, die zu uns in die Klinik kommen, die am Anfang sehr, sehr oft entgleisen, gerne Insulin. Vielleicht in den ersten Tagen tatsächlich eine intensivierte Therapie. Wir fangen aber parallel auch mit oralen Antidiabetika an, meistens mit Metformin plus/minus ein SGLT-2-Inhibitor und häufig kann man schon bei Entlassung das Mahlzeiten-Insulin absetzen und vielleicht nur das Basalinsulin lassen. Das kann man dann meistens nach ein paar Monaten auch wieder absetzen.
Es gab eine sehr interessante Studie in China. Die Kollegen haben tatsächlich was ganz Verrücktes gemacht: Die haben Typ-2-Diabetiker bei bei Diagnose mit einer Insulinpumpentherapie eingestellt. Über mehr, ich glaube acht oder zehn Wochen, und danach haben sie das abgesetzt. Und im späteren Verlauf hat man gesehen, dass diese Patienten über viele, viele Jahre insulinfrei bleiben – dadurch, dass man die Beta-Zellen ganz am Anfang entlastet.
Wenn Insulintherapie, dann würde ich persönlich mit einem Basalinsulin anfangen, aus verschiedensten Gründen. Es ist einfach zu titrieren. Es ist für die Patienten einfach anzuwenden. Die psychologische Hürde mit Insulin anzufangen ist sehr gering, sie brauchen eine Spritze am Tag, müssen auch nicht häufig messen und das Hypoglykämierisiko ist sehr gering, Gewichtszunahme-Risiko ist sehr gering.
Wenn man jetzt über komplexere Insulin-Schemata spricht, dann ist das tatsächlich ein Thema für einen anderen Tag, weil dann muss man wissen, welche Patienten, welche Vorgeschichte. Das machen wir häufig im Krankenhaus das komplexere Insulin-Schema, das läuft meistens über die Diabetologie. Aber man kann alles anfangen. Die Korrekturen nach den 30er-Regeln sind immer noch nicht ganz out und werden auch im Krankenhaus gemacht.
Zum Thema konventionelle Insulintherapie, also zweimal Mischinsulin, das ist eher was für ältere Menschen im Heim bzw. nicht nur im Heim, aber ältere Menschen mit sehr starrem Tagesablauf, die immer das gleiche essen zur gleichen Uhrzeit, die sich ungefähr gleich viel bewegen jeden Tag. Das ist ein Therapieregime mit hohem Hypoglykämierisiko.
Sehr schöne Frage. Kann ich am besten mit Daten aus einer älteren Präventionsstudie beantworten, der Diabetes Prevention Study. Da hat man sich Patienten mit metabolischem Syndrom und mit Prädiabetes angeschaut und hat geschaut, was passiert, wenn wir nichts machen (Placebo), was passiert, wenn wir Metformin geben oder eine Gewichtsabnahme durch Bewegung + Ernährung herbeiführen. Ich habe die genauen Zeiträume nicht mehr im Kopf, aber am besten hat tatsächlich Bewegung + Ernährung abgeschnitten, also Gewichtsabnahme – dann Metformin und Placebo als letztes.
Zum einen sagt die Datenlage also klar Lifestyleänderung. Ich finde es auch aus einem anderen Grund wichtig, aus dem psychologischen Grund. Der Patient lernt: Okay, ich habe es in der Hand. Wenn man eine Tablette gibt – Metformin ist super, ich bin großer Fan von Metformin – aber, wenn man eine Tablette gibt, dann denkt der Patient: Okay, ich nehme schon die Tablette, jetzt muss ich nicht mehr so viel machen. Und das ist ein wichtiger psychologischer Kniff. Da bringt tatsächlich auch eine moderate Gewichtsabnahme, so 5 bis 10 % vom Körpergewicht, enorm viel. Es bringt sehr viel Remission, auch in früheren Diabetes-Stadien. Sowohl Leitlinien- als auch meine persönliche Meinung: Unbedingt Lebensstil! Da braucht man tatsächlich Zeit und Geduld und man muss individuell beraten. Aber das wirkt am besten und auch am nachhaltigsten.
Ozempic® oder Semaglutid gehört zu dieser Klasse der GLP-1-Analoga, wird einmal die Woche gespritzt, wirkt sehr gut auf den Blutzucker und wirkt sehr gut aufs Gewicht. Die Menschen nehmen sehr gut ab. Ich kann vielleicht ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern. Bald – in USA schon zugelassen – wird ein dualer Agonist auf den Markt kommen, das Tirzepatid, das ist ein GLP-1- und GIP-Agonist. Das wird eine noch größere Gewichtsabnahme produzieren. Diese Präparate wirken, solange man sie spritzt. Das Gleiche gilt auch zum Beispiel für Liraglutid, das gehört zur gleichen Klasse, das ist sowohl für Diabetes zugelassen unter dem Namen Victoza®, als auch für Gewichtsabnahme unter dem Namen Saxenda® – ich will hier keine Werbung machen, ist nur meine persönliche Meinung.
Man kann es als Starthilfe nehmen. Wenn man ein paar Kilogramm abnimmt, freut man sich und man kann sich besser bewegen, kann mehr Sport machen. Man muss sich immer die Frage stellen – ich rede jetzt nicht von Diabetes, sondern rein von der Gewichtsabnahme – ob man das ein Leben lang spritzen möchte. Wenn man Diabetes hat und Semaglutid spritzt, das wirkt super. Man kommt dann irgendwann auch zu einem Plateau. Die Wirkung auf das Gewicht leitet sich aus der Verzögerung der Magenentleerung ab. Man wird also schneller und länger satt. Und die Präparate haben auch Effekte zentral auf auf das Sättigungsgefühl. Also man nimmt ab, weil man schneller satt wird, man isst weniger. Ich habe jetzt auch einen jungen Mann, der auch Semaglutid nimmt und der sagt: Früher habe ich vier Brötchen gegessen, jetzt kriege ich kaum eins runter. Hat abgenommen, ist alles schön, also ein großer, großer Fortschritt für die Therapie. Für die Diabetes-Therapie und Gewichtsabnahme ist das eine gewünschte Nebenwirkung.
Jetzt rein für die Gewichtsabnahme? Kann man machen. Man gibt die Verantwortung dann aber ab. Man sagt: Okay, ich möchte nichts ändern, dann soll die Spritze das für mich richten. Aber man muss die Fälle immer individuell betrachten. Wenn jemand sehr, sehr übergewichtig ist, sich nicht mehr gut bewegen kann, vielleicht schon Gelenkprobleme hat, dann ist das mit Sicherheit ein probates Mittel, um Gewicht abzunehmen.
Auch eine sehr gute Frage. Es ist tatsächlich so, dass SGLT-2-Hemmer ein Ketoazidose-Risiko mit sich bringen, die Pathophysiologie ist sehr kompliziert. Was erschwerend hinzukommt, ist, dass die Blutzuckerwerte häufig nicht so hoch sind, wie man die bei einer normalen Ketoazidose erwarten würde – dadurch, dass durch den Urin Zucker ausgeschieden wird. Und darum muss man immer daran denken, bei Patienten zum Beispiel vor Operationen oder mit akuten Erkrankungen oder bei Patienten, die länger fasten, immer die SGLT-2-Inhibitoren abzusetzen. Wir machen das mittlerweile in der Klinik so – fast wie bei Metformin –, dass wir vor Kontrastmittelgabe, vor Operationen oder bei geplantem längeren Aufenthalt die SGLT-2-Inhibitoren pausieren. Ich kann mich an einen Fall erinnern, das war ein junger Mann mit Typ 2, der Forxiga® eingenommen hatte. Da kam er mit einer Ketoazidose. Das Forxiga® war aber nicht in der Aufnahmemedikation aufgeführt. Der Patient hat es vergessen zu sagen. Wir haben uns gefragt, warum hat der Ketone, der ist doch Typ 2? Und dann ging es ihm nicht besser und irgendwann hat er uns gesagt: Ach ja, übrigens, ich nehm das noch! Dann haben wir es pausiert und dann ging es ihm sofort besser. Also sehr, sehr gute Frage. Wichtiges Thema!
Sowohl Ausdauersport, als auch Kraftsport oder Koordinationsübungen. Immer hilfreich ist das, was man länger macht. Also es nützt nichts, wenn man es einmal macht und dann nicht mehr, sondern wichtig ist, dass der Mensch Spaß dran hat und dass er das regelmäßig macht, dass eine Gewohnheit draus wird. Was aber auch wichtig ist, und darüber wird weniger gesprochen, ist die Bewegung im Alltag. Es gibt Menschen, die hibbelig sind, die viel rumlaufen, viel aufstehen, viel gestikulieren mit den Händen. Es gibt andere, gemütlichere und das macht so 200 bis 300 Kalorien Unterschied am Tag aus.
Man sagt so 7.000–10.000 Schritte am Tag sollte man erreichen, also viel zu Fuß laufen. Keinen Aufzug nehmen, Treppen nehmen, wenn man irgendwo Auto parkt, am besten weiter weg parken und dann zu Fuß die Strecke zurücklegen. Abends vielleicht einen Spaziergang machen; wenn man mit der Straßenbahn fährt, eine Haltestelle früher aussteigen und dann zu Fuß laufen. Kraftsport ist auch wichtig, auch bei älteren Menschen. Man weiß mittlerweile, dass man in jedem Alter Muskelmasse aufbauen kann, auch wenn man mit 80 anfängt. Man muss sich vorstellen, die Muskeln sind im Prinzip große Speicher für Zucker oder für Glykogen. Wenn man sich körperlich betätigt, dann macht man zum Einen Platz in den Speichern, weil die Muskeln das Glykogen verbrauchen und das erhöht tatsächlich auch die Insulinsensitivität. Wenn man die Gewichtsabnahme im Hinterkopf behält und wenn das auch nur so ein moderates Kaloriendefizit ist jeden Tag – mit der Zeit kommt dann auch die Gewichtsabnahme. Das ist viel gesünder. Ich sage immer, Richtung ist wichtiger als Geschwindigkeit.
LADA (late autoimmun diabetes of the adult) ist ein Typ 1, der in fortgeschrittem Alter auftritt; also ein Typ 1 im Alter über 40 über 45 und es ist meistens von einem Typ 2 zu unterscheiden. Die Patienten haben eine geringe Insulineigensekretion, haben auch häufig positive Antikörper für Typ 1. Ich sage deswegen, dass es meistens gut zu unterscheiden ist, weil es auch bei dem Diabetes Typ 2 diese Cluster gibt von Patienten, die schlank sind und die wenig eigenes Insulin haben. Und die überlappen sich wahrscheinlich. Aber LADA ist, platt gesagt, ein Typ 1 im fortgeschrittem Alter.