Deutschlands bekanntester Gesundheitsjournalist macht eine Doku zu Long Covid und erntet einen Shit-Storm. Zurecht?
„Ich möchte mich bedanken, bei Olivia, bei Miriam, bei Louis, bei Martin, Ana, Assad und allen, die mir ihre Geschichte erzählt haben. Ich wünsche euch alles Gute. Und danke an alle, die mit uns ihr Foto geteilt haben: Ihr gebt dieser schwer fassbaren Krankheit endlich ein Gesicht.“
Eckart von Hirschhausen
Mit diesen Sätzen und einer großen Porträtfotowand auf dem Fernsehbildschirm beendet Eckart von Hirschhausen die Dokumentation „Hirschhausen und Long Covid – Die Pandemie der Unbehandelten“, die am Montag zur besten Sendezeit, gleich nach der Tagesschau, in der ARD lief (sie ist hier in der Mediathek abrufbar). Die Sätze und die zugehörigen Fotos fassen eines der zwei wesentlichen Anliegen zusammen, die der Arzt, Wissenschaftsjournalist und Sachbuchautor mit seiner Dokumentation verfolgte: Es ging darum, Menschen, die sich von den Folgen einer Covid-Erkrankung oder den Folgen einer Covid-Impfung nicht oder nur sehr langsam erholen, ein Gesicht und einen Namen zu geben. Es ging um Long Covid – vor allem um Long Covid – und ein bisschen um das viel seltenere und noch viel weniger öffentlich thematisierte Post-Vac-Syndrom, das klinisch ähnlich verlaufen kann.
Das zweite große Anliegen der Dokumentation war eher eine Frage. Der Film thematisierte wiederholt die eklatanten Forschungsdefizite bei den Covid-Folgeerkrankungen, insbesondere im Bereich der klinischen Therapieforschung. Jener Forschung also, die Betroffenen im besten Fall unmittelbar helfen und wenn nicht helfen, dann zumindest Hoffnung geben kann. Es ging um die Frage: Warum fordert jeder Politiker, jeder Universitätsprofessor, lautstark Studien zu Long Covid und doch passiert kaum etwas? Eine wichtige Frage, zwei wichtige Anliegen. Und doch ist das Ergebnis der Dokumentation für den Moment erbitterter Streit.
Der Reihe nach. Noch vor Ausstrahlung von „Hirschhausen und Long Covid – Die Pandemie der Unbehandelten“ meldeten sich am Montag Süddeutsche Zeitung und Tagesschau.de zu Wort. Die nahmen im Rahmen einer existierenden Recherchekooperation von SZ, WDR und NDR die Dokumentation unter die Lupe und kritisierten sie scharf. Unter dem Titel „Fragwürdige Blutwäsche“ wurde die Dokumentation auf Tagesschau.de verrissen. Die Süddeutsche schrieb ebenfalls einen Verriss und titelte „Der Film macht mir wirklich Bauchweh“, ein Zitat, auf das ich gleich noch einmal zurückkomme. Andere Medien legten nach, auch das Deutsche Ärzteblatt, wo unter anderem vom Lungenspezialisten Tobias Welte von der Medizinischen Hochschule Hannover deutliche Kritik kam. Der Vorwurf: Die Dokumentation werbe für eine teure Selbstzahlertherapie, die Komplikationen haben kann und für die es bei Long Covid keine Evidenz gibt, für die Lipid-Apherese.
„An 13 Stellen in 45 Minuten sage ich: Wir brauchen mehr Studien. Ich stelle sieben verschiedene Verfahren vor. Ja, die Blutwäsche ist eines davon. Ja, sie ist vielleicht zu prominent im Film. Aber zu sagen, ich hätte verantwortungslos eine Therapie empfohlen und Wunderheilungen versprochen ist erstens falsch, und es hilft in einer Situation der massiven Unterversorgung der Menschen kein Stück weiter.“
Hirschhausens Protagonistin, die Lipidspezialistin Dr. Beate Jäger, die in Mülheim/Ruhr eine Praxis mit Apherese-Zentrum betreibt, hat nach eigenen Angaben seit 2021 eine vierstellige Zahl an Post-Covid-Patienten gesehen und viele von ihnen, oft wiederholt, mit Lipid-Apherese behandelt. Dass Hirschhausen Jaeger in der Doku zur „nicht gehörten Prophetin im eigenen Lande“ stilisiert, stößt einigen Kritikern besonders auf. Eine Mutter Theresa von Long/Post Covid? NDR-Journalist Markus Grill konterte auf Twitter mit Lazarus: „In einer ARD-Doku können nahezu lahme Menschen plötzlich wieder Marathon laufen.“
Das Ganze ließe sich als Medienscharmützel abtun, wäre da nicht Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen. Sie ist Stellvertretende Direktorin des Instituts für Medizinische Immunologie der Charité Berlin, leitet dort die Immundefekt-Ambulanz und forscht unter anderem zum Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Scheibenbogen hat sich einen Namen gemacht als Spezialistin für Long/Post Covid. Sie favorisiert therapeutisch ein anderes Blutwäsche-Verfahren, nämlich die auf die Beseitigung von Autoantikörpern zielende Immunadsorption.
Scheibenbogen ist Kronzeugin von Süddeutscher Zeitung und Tagesschau.de: Sie habe arges Bauchweh wegen des Films, ließ sie sich zitieren. Das titelgebende Zitat in der Süddeutschen stammt von ihr. Nun tritt Scheibenbogen aber in Hirschhausens Film mehrfach selbst auf, was die SZ verschweigt. Die beiden kennen und schätzen sich – und Scheibenbogen fühlt sich jetzt von Tagesschau und Süddeutscher Zeitung sinnentstellend zitiert. Böse E-Mails gehen hin und her, man will nicht mehr miteinander reden. Alles nicht so schön.
Wer das alles verstehen will, muss wissen, dass sich Hirschhausen um Covid und Long Covid seit Längerem kommunikativ verdient macht. Der Film am Montagabend war nicht sein erster Covid-Film, sondern sein vierter. Wenige Tage vor der Ausstrahlung erhielt Hirschhausen u. a. für eine Fernsehdokumentation über die Covid-Impfung, in der er als Impfproband agierte, den Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus.
In Sachen Long Covid hat Hirschhausen in der Vergangenheit unter anderem eine Reha-Klinik besucht, in der Long-Covid-Patienten behandelt werden und hat, in für ihn typischer Manier, bei den Gesprächsgruppen teilgenommen, mit Ärzten und Patienten intensiv gesprochen und in den Sportgruppen erlebt, wie Betroffene nach Belastung in sich „zusammenfallen“. Hierzu muss man wissen, dass körperliche Aktivität bei der schwersten Form von Long Covid, eben jenem ME/CFS, vielen Experten und Patienten als kontraproduktiv gilt. Deswegen waren zahlreiche ME-/CFS-Patienten sehr erbost, als kürzlich ein Vorbericht des IQWiG zu ME/CFS die aktivierende Therapie als einzige Behandlung mit einer gewissen Wirksamkeit nannte. Die endgültige Version des Berichts liegt noch nicht vor.
Das Problem ist, dass es im Zusammenhang mit ME/CFS und auch im Zusammenhang mit Long Covid nach wie vor kaum Studien gibt, die sich für eine evidenzbasierte Bewertung à la IQWiG eignen würden. Die wenigen, die es gibt, evaluierten Aktivierungstherapien, also Reha, und kognitive Verhaltenstherapien, also Psychotherapie.
Kleine Exkursion zum Deutschen Register Klinischer Studien beim BfArM. Wer dort „Long Covid OR Post Covid“ in die Studiensuchmaschine eingibt, findet derzeit insgesamt 64 Einträge (Stand: 19. Oktober 2022). Wer es auf randomisierte, kontrollierte Studien beschränkt, landet bei 15 Einträgen, davon zwölf, in denen es tatsächlich um Long/Post Covid geht. Sämtliche Studien evaluieren entweder Reha-Maßnahmen oder Psychotherapie. Das europäische Studienregister EudraCT liefert für dieselbe Abfrage neun Einträge, darunter immerhin zwei Studien zur hyperbaren Sauerstofftherapie, eine Comirnaty®-Studie und eine Montelukast-Studie.
„Das ist doch der eigentliche Elefant im Raum. Eine Erkrankung, die allein in Deutschland zehn-, vielleicht hunderttausende Menschen betrifft, ist im Jahr drei der Pandemie kaum Gegenstand klinischer Studien. Medizinische Fachgesellschaften streiten, wer zuständig ist: Psychosomatik? Neurologie? Immunologie? Hausärzte und Unikliniken weisen und speisen die Patienten immer wieder ab. Es ist einfach zu sagen, wofür es keine Evidenz gibt. Aber mit einem Funken Empathie ist doch die Frage: Was sollen die Menschen denn dann bitte tun?“
Was es insbesondere nicht gibt, sind registrierte Long-Covid-Studien, die jene Mechanismen adressieren, die von der präklinischen Long-Covid-Forschung als die plausibelsten Pathomechanismen der Beschwerden und insbesondere ihrer ausgeprägtesten Form, des chronischen Fatigue-Syndroms ME/CFS, angesehen werden. Konkret:
Die beiden im Zusammenhang mit Long Covid diskutierten und von einer gewissen Zahl an Patienten eingeforderten Blutwäscheverfahren Lipid-Apherese bzw. Immunadsorption adressieren vor allem die ersten beiden der genannten, denkbaren Long-Covid-Mechanismen. Das ist es, was diese Behandlungen für viele attraktiv macht. Dazu kommen Fallberichte über erfolgreiche Verläufe, die es bei experimentellen Therapien immer gibt. Sie lassen sich nutzen, um einen Film zu emotionalisieren, taugen aber nicht als Behandlungsargument im Sinne der evidenzbasierten Medizin.
Stichwort evidenzbasierte Medizin: Gerade bei invasiven und teuren Verfahren kann der Placebo-Effekt mitunter enorm sein – ein Punkt, der in Hirschhausens Film vom Neurologen Prof. Christoph Kleinschmitz aus Essen thematisiert wird. Im Anschluss an diese Szene sitzt Hirschhausen mit der von Long Covid betroffenen Ärztin Anna Brock auf einer Treppe und lässt das Gespräch Revue passieren. Man merkt ihm deutlich an, dass es ihm schwerfällt, hier an einen reinen Placeboeffekt zu glauben. Nein, ein neutraler Medizin-Berichterstatter ist Hirschhausen in dieser Dokumentation nicht. Er will es aber auch nicht sein.
„In all diesen Artikeln und Stellungnahmen zum Film passiert das, was die Medizin gerne macht: Sie redet über die Patienten, aber nicht mit ihnen. Wer Patienten vor Überbehandlung schützen möchte, sollte doch mindestens einen Betroffenen oder Betrogenen gehört und getroffen haben. Nach dem ersten Long-Covid-Film, und auch nach diesem, werden die Autorin und ich mit hunderten Mails, Hilferufen und Anfragen überschüttet. Aber dieses Elend will keiner wirklich sehen, weil es keine einfachen Lösungen gibt.“
Hirschhausen sagt im Gespräch mit DocCheck, dass sich in den Reaktionen auf die Dokumentation, in den E-Mails, die seither hin und her gehen und bei den Stellungnahmen von Universitätsprofessoren und Fachgesellschaften einiges zu vermengen scheine und damit hat er wahrscheinlich recht. Die akademische Medizin wurde durch Covid in einer Weise herausgefordert, die neu war für sie. Hirschhausen selbst spricht von multiplen Kränkungen.
Da fanden sich die Doyens der evidenzbasierten Medizin (EbM), die Teilen des deutschen Medizin- und Wissenschaftsjournalismus recht nahestehen, plötzlich in einigen Bereichen in der Defensive, weil das, was sie anzubieten hatten, für ein dynamisches Geschehen wie die Pandemie vielfach schlicht nicht schnell genug war. Wer in Sachen EbM nach drei Jahren Pandemiezumutungen endlich mal wieder einen Pflock in den Boden rammen wollte, für den ist die Lipid-Apherese eine Steilvorlage – ich komme da gleich nochmal drauf zurück.
Dann die Herausforderung oder „Kränkung“ durch Long Covid selbst, ausgerechnet ein postvirales Syndrom. Postvirale Syndrome sind eine Krankheitsentität, mit der sich Gesundheitsforschung und evidenzbasierte Therapieforschung noch nie leichtgetan haben. Tausende Patienten, die aus lauter Verzweiflung einige wenige Praxen und Therapiezentren ansteuern, die sich fast durchweg außerhalb der etablierten akademischen Strukturen befinden – das sieht niemand im medizinischen Establishment gern.
Vor einem solchen Hintergrund klingt es auch immer etwas hohl, wenn Universitätsprofessoren in ein Mikrofon dozieren, dass nicht evidenzbasierte Verfahren primär in klinischen Studien angewandt werden sollten. Da wird niemand widersprechen und es lässt sich in Zeitungsartikeln wunderbar zitieren. Aber was, wenn keiner diese Studien macht?
Das Ganze ist am Ende ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie gut intendierte Gesundheitskommunikation nach hinten losgehen kann. Hirschhausen weist zurecht darauf hin, dass es völlig absurd sei, ihn in Sachen Long Covid auf das Thema Lipid-Apherese festzunageln, nachdem er viele weitere Therapieansätze bereits in anderen Sendungen thematisiert hat. Andererseits ist ein 45-Minuten-Film zur Hauptsendezeit ein Solitär und nicht Teil einer Serie. Wenn ein solcher Film ein einzelnes Verfahren in den Mittelpunkt rückt und stark emotionalisiert, dann kann das problematisch sein. Dadurch, dass Hirschhausen sich in Mühlheim während seiner akuten Covid-Erkrankung vor laufender Kamera selbst einer Lipid-Apherese unterzog, hat er Bilder geschaffen, die das zumindest umstrittene Verfahren (wir berichteten) stark nach vorne rücken. Zu stark.
Dass das in den Mittelpunkt gerückte Verfahren ausgerechnet die Lipid-Apherese ist, macht es nicht einfacher. Auch kritische Fachgesellschaften wie die DGN und die DGfN sagen nicht, dass der Apherese-Ansatz von vornherein Quatsch sei. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass interdisziplinäre Studien nötig sind, um evidenzbasierte Long-/Post-Covid-Therapien zu etablieren, sei es Lipid-Apherese, sei es Immunadsorption, seien es andere, nachzulesen in der Pressemitteilung der DGN zur S2k-Leitlinie Neuro-Covid, in der Hirschhausen schon Ende September einen unfreiwilligen Auftritt hatte. Die DGN betont in dieser Pressemitteilung auch, dass eine Immunadsorption aus ihrer Sicht pathophysiologisch mehr Sinn macht als die Lipid-Apherese.
Die Lipid-Apherese hat in der Medizin eine Anamnese. Sie wurde (und wird) außerhalb ihrer eng gefassten, klinisch unstrittigen Kernindikationen im Bereich der schweren Fettstoffwechselstörungen bei zahlreichen Erkrankungen als Therapieversuch, mitunter auch Wundermittel, in Stellung gebracht, von KHK über Alzheimer bis Borreliose. Das Schema ist immer ähnlich: Private Praxen bieten die Leistung an, mit diffusem Verweis auf gefäßreinigende Effekte und unter Hervorhebung positiver Fallberichte. Was konsequent fehlt, sind seriöse Publikationen, sind randomisierte Studien.
Wenn jetzt eine Apherese-Praxis hunderte Patienten behandelt, ohne dazu zu publizieren, dann weckt das bei manchem Erinnerungen. Und wenn dann die klinische Studie, die in dieser Praxis offenbar läuft, hinsichtlich ihrer Methodik unklar bleibt und auch nicht – siehe oben – in einschlägigen deutschen oder europäischen Studienregistern auftaucht, dann ist es schwierig, wenn eine Dokumentation zur Hauptsendezeit das nicht zumindest auch thematisiert.
Richtig, Hirschhausen sagt völlig klar und deutlich „auf der Tonspur“ der Dokumentation, dass es sich bei der Lipid-Apherese nicht um ein evidenzbasiertes Verfahren handelt. Gleichzeitig lässt er aber sein gereinigtes Blut für schicke Bilder mit einem Fluoreszenzverfahren durchleuchten, um einen vermeintlichen Therapieeffekt – das Verschwinden von Covid-Mikrothromben – am eigenen Beispiel zu illustrieren. Das Problem ist, dass der Biomarker „schön fluoreszierende Covid-Mikrothromben“ genauso wenig für Long Covid validiert ist, wie die Apherese als Therapie evidenzbasiert ist. Eine Bekannte von mir war lange im Marketing tätig und sie sagte mir die Tage: „Wenn ich Hersteller von Blutwäschegeräten wäre, würde ich sagen: optimales Product-Placement.“
Ich verstehe, was sie meint, sehe es aber anders. Wer sich die 45 Minuten angesehen hat, der weiß, worum es der Dokumentation vor allem ging: Es ging darum, laut dazu aufzurufen, dass klinische Studien bei Long/Post Covid nicht mehr nur gefordert, sondern endlich auch durchgeführt werden. Worum es auch ging: Betroffenen eine Stimme zu geben. Die Dokumentation hat aus journalistischer Sicht Lücken, vielleicht zu große Lücken. Aber sie hat auch den eingangs erwähnten Abspann, der Menschen, die an Long Covid leiden, einen Namen und der Krankheit ein (viele) Gesicht(er) gibt. Auch das ist wichtig, und auch das ist Gesundheitsjournalismus.
Bildquelle: Ethan Sexton, Unsplash