Die Annahme vieler Patienten, alle Risiken von Arzneimitteln seien bekannt, ist ein Trugschluss. Gesundheitsbehörden fordern: Neben Apothekern und Ärzten sollen auch verstärkt Patienten Nebenwirkungen melden, insbesondere von rezeptfreien Medikamenten.
Zum zweiten Mal ruft das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeinsam mit den anderen europäischen Behörden zur Meldung von Nebenwirkungen auf. „Je früher und je häufiger uns die Informationen aus der Praxis mitgeteilt werden, desto umfangreicher ist das Bild, das wir uns machen können“, sagt BfArM-Sprecher Maik Pommer. Der Fokus der Behörden liegt vor allem auf Verdachtsfällen bei so genannten OTC-Medikamenten – der Begriff „Over-the-counter“ steht für alle Mittel, die über den Ladentisch und also rezeptfrei zur Selbstbehandlung ausgegeben werden. In diesem Jahr sind vor allem Patienten verstärkt dazu aufgefordert, sich bei Ärzten oder den Behörden zu melden. „Weil kein Arzt bei der Verschreibung beteiligt ist, fehlt uns eine Instanz, die uns sonst oft eine Rückmeldung in Form einer Verdachtsmeldung geben würde“, sagt Pommer.
„Wir haben grob gerechnet im Jahr ungefähr 50.000 Meldungen über alle Medikamente. Darin enthalten sind auch Doppel-und Folgemeldungen, so dass wir uns netto mit etwa 25.000 Verdachtsmeldungen befassen“, so der Sprecher. „2016 waren es genau 64.000 Meldungen. Davon kommen rund 80 Prozent von pharmazeutischen Unternehmen, die ihre Informationen wiederum meist von Ärzten bekommen haben. Nur 20 Prozent dieser 64.000 bekommen wir von anderen Gruppen wie zum Beispiel von den Arzneimittelkommissionen der Ärzte und der Apotheken, den Ärzten selbst sowie von Heilberuflern oder Patienten. Dies ist aber eine sehr geringe Zahl.“ Deswegen hätten die Behörden nun europaweit eine Sensibilisierungskampagne gestartet, sagt Pommer: „Wir wollen an dieser Stelle direkt Patienten sagen, dass es nichts ist, was man ignorieren sollte. In dem Moment, wo man einen Verdacht auf eine Nebenwirkung hat, ist es extrem hilfreich für alle Beteiligten, so etwas zu melden.“ Bei der Auswertung der Verdachtsfälle müsse man wissen, was eine Nebenwirkungsmeldung überhaupt sei, so Pommer. Zunächst besage sie nur, dass bei einem Patienten eine gesundheitliche Reaktion aufgetreten sei, die möglicherweise in Zusammenhang mit einem Arzneimittel steht: „Diese Meldung allein gibt natürlich noch keinen sicheren Aufschluss darüber, ob tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht. Es kann auch sein, dass die körperliche Reaktion, die als Nebenwirkung gemeldet wird, tatsächlich eine Folge der Grunderkrankung ist.“
Man müsse unterscheiden, ob es sich um neue Informationen über bislang noch nicht bekannte Risiken handele, oder um solche, die vielleicht eine zusätzliche Form der Risikoinformation nötig machen, sagt Pommer: „Wir müssen nicht immer an ein Arzneimittel denken, das am Ende vom Markt muss. Oft gibt es auch die Erkenntnis, dass ein neues Risiko und ein neuer Warnhinweis, eine Änderung der Information, eine Einschränkung der Anwendungsgebiete, Kontraindikationen oder verstärkte Sicherheitshinweise gegeben werden müssen.“ Ein Beispiel seien die oralen Kontrazeptiva, so der Sprecher. Bei der Anti-Baby-Pille hätten die Behörden durch die Risikobewertungsverfahren keine wirklichen neuen Risiken gesehen, doch diese müssten in der Praxis besser beachtet werden. „Wir haben daraufhin eine Checkliste für Ärzte entworfen, was bei der Verordnung zu beachten ist. Für Anwenderinnen haben wir eine Karte zur Information über Risikofaktoren und zur Erkennung von Anzeichen einer Thrombose entwickelt“, sagt Pommer. „Tatsächlich war die Verordnung der Pille mit dem höchsten Thromboserisiko nach diesen Maßnahmen um 53 Prozent zurückgegangen.“
Risikobewertungsverfahren würden europaweit nach klaren und geregelten Verfahren ablaufen, so der BfArM-Sprecher. Es dauere immer mindestens mehrere Monate, denn diese Verfahren erforderten in der Regel eine wissenschaftliche Begleitung: „Grundsätzlich wird jede Meldung miteinbezogen. Wenn es bekannte und erwartbare Risiken sind, stellt sich die Frage, ob sie in der Verordnungspraxis zu wenig beachtet werden“, sagt Pommer. Davon hänge auch ab, ob viele oder wenige Meldungen Auslöser für ein Verfahren seien: „Je größer der Verdacht ist, dass es sich um ein neues Risiko handelt, desto weniger Meldungen reichen aus. Fünf Meldungen für einen Wirkstoff, bei den der beschriebene Effekt bislang noch nicht bekannt war, wären zum Beispiel ein Anlass, um sich damit auseinanderzusetzen.“ Dabei müsse beachtet werden, dass es weniger Meldungen gebe, je länger ein Medikament auf dem Markt sei, so Pommer: „Der Grund ist dann nicht, dass weniger Nebenwirkungen eintreten, aber bei einem neuen Medikament ist die Sensibilität besonders hoch. Dahinter mag der Gedanke stecken, dass die Risiken den Zulassungsbehörden schon lange bekannt sind, deswegen brauche ich nicht mehr zu melden.“ Auf der anderen Seite sehe man auch, dass eine abnehmende Meldebereitschaft kurzfristig wieder wachsen könne, wenn eine öffentliche Diskussion einsetze, so der Sprecher. Darum sei es schwierig, die Anzahl von Meldungen oder Verdachtsmomenten bei verschiedenen Arzneimitteln miteinander zu vergleichen: „Wenn man Zahlen einfach nur nebeneinander stellt, entsteht schnell der falsche Eindruck. Nämlich, dass das alte Arzneimittel sicherer ist, weil es darüber weniger Meldungen gibt als bei einem neuen Arzneimittel. Das wäre dann ein Trugschluss.“