Migräne kommt bei Frauen nicht nur häufiger vor, sie wird von Ärzten und dem Umfeld der Patientinnen auch heruntergespielt. Doch bei den Männern sieht es nicht besser aus – bei ihnen wird die Krankheit oft erst gar nicht diagnostiziert. Das hat Folgen.
„Migräne ist eh nur was für faule Frauen und Frauen, die keinen Sex wollen“ – so etwas bekommen die in der Mehrheit weiblichen Patienten mit Migräne auch heutzutage noch zu hören. Von Freunden, Kollegen oder dem Chef. Allen Fortschritten im pathophysiologischen Verständnis zum Trotz, halten sich solche Klischees über die Migräne in der Gesellschaft. In ihrem Vortrag auf dem Deutschen Schmerzkongress 2022 beleuchtete Psychotherapeutin Anna-Lena Guth, wie unterschiedlich eine Migräneerkrankung bei Männern und Frauen ausgeprägt sein kann und wie psychosoziale Faktoren für den Krankheitsverlauf zum Problem werden können.
„Das Thema Stigmatisierung ist relevant und für alle Geschlechter von Nachteil“, erklärt Guth. Zur Unterstreichung des Problems stellt sie die Ergebnisse einer Studie von 2019 vor, in der 9.999 Personen ohne Migräne befragt wurden. Knapp ein Drittel dieser Probanden fand, dass Migränebetroffene die Krankheit als Ausrede auf der Arbeit nutzen; mit 45 % war fast die Hälfte der Befragten der Meinung, dass die Migränepatienten ihre Krankheit doch einfach behandeln lassen könnten.
Solche Stigmata wirken sich auf verschiedenen Ebenen aus. Einerseits können sie zu struktureller Diskriminierung in der Gesetzgebung führen, zu erschwertem Zugang zu Behandlungen und auch zu mangelnden Fördergeldern. Auf der anderen Seite haben Aussagen wie „Ist ja nur Kopfschmerz, stell dich nicht an“ auch auf persönlicher Ebene Folgen: „Wenn man solche Dinge immer wieder hört, dann werden diese mit der Zeit internalisiert“, hält Guth fest. „Und das wirkt sich dann auch wieder auf die Behandlung aus. [Sie] wird weniger aufgesucht, wir haben häufiger ein Schulderleben und wir haben eine geringere Adhärenz im Kopfschmerzmanagement.“ Die Folgen der Unterversorgung sind unnötige Krankheitsausfälle und hohe volkswirtschaftliche Schäden.
Wirtschaftliche Schäden sind das eine – auf der anderen Seite bringt die Krankheit für die Betroffenen große soziale Einschränkungen mit sich. Besonders Frauen leiden daran. So berichteten in einer Untersuchung von Migränepatienten Frauen öfter als Männer, dass ihre Krankheit romantische Beziehungen störe, sie weniger Verständnis und Unterstützung durch Freunde und Familie erführen und daher eher Symptome verheimlichten. Dabei kann es nicht nur um den bloßen Kopfschmerz gehen. Guth weist darauf hin: „Interessanterweise haben sich diese Unterschiede nur bei der Migräne gefunden, nicht bei Betroffenen mit Spannungskopfschmerzen.“
Ein weiterer auffälliger Zusammenhang sei, dass die oben genannten Probleme mit steigender Kopfschmerzfrequenz zunähmen – aber nur bei einem Geschlecht: „Da würde man ja eigentlich sagen, das ist augenscheinlich klar, je höher die KS-Häufigkeit, desto höher die Belastung – aber das konnte sich bei den Männern in diesen Punkten nicht bestätigen lassen, sondern nur bei den Frauen.“
Für diesen Unterschied sieht Guth zwei mögliche Erklärungen: „Ein Ansatzpunkt wäre die Frage: Welche Bedeutung hat die soziale Unterstützung für die beiden Geschlechter? Hier gibt es Vorbefunde, dass Frauen, wenn sie krank sind, tendenziell häufiger soziale Unterstützung suchen und wenn diese fehlt das von größerer Relevanz ist.“ Der andere Ansatzpunkt wäre die klassische Rollen- und Aufgabenverteilung in der Gesellschaft, die Care-Aufgaben noch immer vornehmlich bei Frauen ablädt. Diese sei Guth zufolge eventuell anfälliger für Zeitverluste, die durch häufige Migräneattacken anfallen – nachvollziehbar, dass das eher Unmut im Umfeld nach sich zieht.
Stellt sich nun die Frage: Warum ist die Migräne überhaupt bei Frauen so viel häufiger? Komplett geklärt ist das bis heute nicht. Einige Faktoren könnten aber zur Erklärung beitragen – physiologische sowie psychosoziale.
Da wären beispielsweise die Migräne-Trigger, also Faktoren, die „allein oder in Kombination mit anderen Faktoren bei anfälligen Personen eine Kopfschmerzattacke auslösen können“, die sich zwischen Frauen und Männern unterscheiden. Frauen hätten Untersuchungen zufolge mehr und unterschiedliche Trigger als Männer; die wichtigsten davon seien Stress, helles Licht und die Menstruation. Zwar gibt es Überschneidungen zwischen „männlichen“ und „weiblichen“ Triggern, jedoch kommen die gleichen Trigger bei Frauen häufiger vor. Bei Frauen werden die Attacken auch häufiger getriggert, anstatt spontan aufzutreten. Das könnte Guth zufolge daran liegen, dass Frauen eine niedrigere Migräneschwelle besitzen – bedingt durch Schwankungen der Sexualhormone. „Hinweise, dass das die richtige Idee sein könnte, hat man unter anderem dadurch, dass nach der Menopause diese Unterschiede in der Triggerhäufigkeit nicht mehr festzustellen sind.“
Dass Frauen ihre Trigger besser identifizieren können, ist aber nicht unbedingt von Vorteil, da dies in einen Teufelskreis münden kann. Wie Guth erläutert, kann es zu einer Erwartungsangst kommen, woraufhin Patienten versuchen, die Trigger zu meiden. Die verringerte Exposition trägt wiederum dazu bei, die Empfindlichkeit für besagte Trigger weiter zu erhöhen und den Patienten dadurch noch anfälliger für diese zu machen.
Eine weitere Erklärung, die Guth an anderer Stelle ihres Vortrags anstößt, liegt in den Köpfen von Männern und ärztlichem Personal begraben. Die Stigmatisierung der Migräne als banale „Frauenkrankheit“ könnte eventuell dazu führen, dass Männer weniger häufig mit Kopfschmerzbeschwerden zum Arzt gehen – logischerweise bekommen sie dann auch weniger häufig eine Diagnose. Auch, da sich das klinische Bild ein wenig anders präsentiert. Tatsächlich zeigte sich in einer Untersuchung, dass Männer im Gegensatz zu Frauen nicht häufiger zum Arzt gehen, je häufiger sie Kopfschmerzattacken haben. Auf der anderen Seite: Ist die Krankheit als „Frauenkrankheit“ abgespeichert, wird ein Arzt sie bei einem Mann vermutlich auch weniger wahrscheinlich diagnostizieren. Das Problem sei Guth zufolge übrigens nicht nur für die Migräne spezifisch: Bei Clusterkopfschmerzen sei es dafür genau umgekehrt. „Das gilt als Männerkrankheit, also haben Frauen es wahrscheinlich nicht.“
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