Dank COVID-19 lernt die Forschung derzeit viel über die Zusammenhänge zwischen Virusinfektionen und Neurodegeneration. Doch ab wann spricht man von Neuro-Covid und was bedeutet das für die Patienten?
Nach der Spanischen Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts gab es reihenweise Patienten, die mit anhaltenden neurologischen Symptomen auffielen, damals vor allem enzephalitisartige Symptome sowie Syndrome, die heute als Parkinson-Syndrome bezeichnet werden. Auch nach den durch SARS-CoV-1 und MERS verursachten Coronavirus-Epidemien wurden neurologische Folgesymptome beschrieben, darunter Fatigue und Aufmerksamkeitsdefizite. Es sei daher keine Überraschung gewesen, dass es dergleichen auch bei SARS-CoV-2-Infektionen gebe, sagt Prof. Gabor Petzold von der Neurologie am Universitätsklinikum Bonn. Petzold leitet im Rahmen des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) die Arbeitsgruppe Vaskuläre Neurologie und forscht dort – natürlich – auch zu Neuro-Covid.
Neuro-Covid, das sei zunächst einmal ein buntes Potpourri an neurologischen Symptomen, die in unterschiedlicher Häufigkeit vorkämen, so Petzold beim Post-Covid-Symposium der Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung (DZG) in Frankfurt. 50 bis 80 Prozent der Neuro-Covid-Patienten berichten demnach von Fatigue, einem multifaktoriellen Symptom, das außer neuropsychiatrischen auch muskuloskelettale und respiratorische Ursachen haben kann. 15 % der Neuro-Covid-Patienten haben Geruchsstörungen, 30 % Schlafstörungen, 50–60 % kognitive Symptome inklusive „Brain-Fog“, 20 % Myalgien, 15 % Kopfschmerzen, 15 % Visusprobleme und ein Viertel bis ein Drittel psychiatrische Symptome wie Depressivität, Angst und psychotische Episoden.
Petzold konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die kognitiven Symptome. Dies seien insbesondere Gedächtnisstörungen sowie Störungen der Exekutivfunktion und der Aufmerksamkeit. Das Symptom-Pattern mit exekutiven Störungen und Aufmerksamkeitsstörungen sei eher typisch für vaskuläre Demenzen als für Alzheimer-Demenzen, betonte der Neurologe. Objektivieren lassen sich die kognitiven Defizite zum Beispiel durch den Screening-Test MoCA (Montreal Cognitive Assessment), bekanntgeworden durch Donald Trump, der mitteilte, ihn grandios bestanden zu haben.
Metaanalysen zeigten, so Petzold, dass Neuro-Covid-Patienten im Mittel 1 bis 2 MoCA-Punkte verlören. Dies sei nicht automatisch klinisch relevant, andererseits gebe es aber Studien, die dafürsprächen, dass der Verlust eines MoCA-Punkts äquivalent sei zu acht Jahren Gehirnalterung.
Mehrere Fragen stellen sich im Zusammenhang mit Neuro-Covid: Wie häufig ist es denn nun wirklich bei SARS-CoV-2-Infektionen? Wie genau ist der Zusammenhang mit Demenz? Und was sind die Mechanismen, die den Symptomen – kognitiven und auch psychiatrischen – zugrunde liegen? Was die Häufigkeit angeht, gab es im Sommer eine in Nature Medicine publizierte, viel kritisierte Studie auf Basis der US Veterans’ Affairs Datenbank. Rechne man deren Ergebnisse auf die 25 Millionen Deutschen über 60 Jahren hoch, dann wären allein in dieser Altersklasse und nur in Deutschland pro Jahr 250.000 zusätzliche Menschen mit kognitiven Defiziten zu erwarten, so Petzold. Er glaube aber nicht, dass sich die Veterans’-Daten eins zu eins auf Deutschland übertragen ließen.
Eine zweite, in Lancet Psychiatry publizierte Studie hat kürzlich 1,5 Millionen Covid-Patienten auf Basis einer weiteren Datenbank mit 1,5 Millionen, Propensity-Score-gematchten Patienten mit anderen Atemwegsinfektionen verglichen. Die Idee ist, dass mit diesem Design die Covid-spezifische Exzess-Morbidität besser erfasst werden kann. Die Studie liefert zudem Daten über zwei Jahre. Die Ergebnisse sind komplex. Bei den neurologischen Erkrankungen und Ereignissen, konkret ischämischer Schlaganfall, intrakranielle Hämorrhagien und Enzephalitis, unterscheidet sich das Risiko von Covid-Patienten und von Patienten mit anderen respiratorischen Erkrankungen schon nach etwa zwei Monaten nicht mehr.
Anders sieht es bei kognitiven Symptomen, Demenz, Krampfanfällen und psychiatrischen Erkrankungen aus. Hier scheint das Risiko zumindest bis zwei Jahre nach Covid-Infektion höher zu sein als bei anderen Atemwegsinfektionen, wobei sich hier dann die noch weitegehend offene Frage stellt, wie stark sich die Covid-Impfungen bzw. die durch Impfungen und Infektionen in den letzten zwei Jahren aufgebaute Immunität auf dieses Risiko auswirken. Grundsätzlich seien das alles nicht besonders ermutigende Daten, so Petzold, aber für definitive Aussagen, insbesondere zum Demenzrisiko, müsse wahrscheinlich noch einige Jahre gewartet werden.
Spannend und ziemlich schnell unübersichtlich wird es bei den möglichen Mechanismen, die bisher nur ansatzweise verstanden sind. Die viel postulierte, direkte Infektion von Zellen des Gehirns durch SARS-CoV-2 komme wahrscheinlich allenfalls bei einigen wenigen Patienten vor, so Petzold. Bei der Mehrheit der Neuro-Covid-Patienten lägen eher indirekte Effekte der Infektion den Beschwerden zugrunde. Bei akutem Covid und schweren Verläufen gezeigt wurde eine Störung der Blut-Hirn-Schranke, die zum Übertritt von Fibrinogen ins Gehirn führen kann. Dadurch kann es intrakraniell zu Fibrinbildung und Immunreaktionen kommen. Ob das bei Post Covid relevant ist? Unklar.
Ebenfalls bei akuten Covid-Patienten, und zwar auch schon bei milden bis moderaten Verläufen, konnte in PET-Untersuchungen eine Verringerung des Glukosemetabolismus im Gehirn demonstriert werden. Auch hier viel Unklarheit: Ob es sich um ein neurometabolisches Problem handelt, oder ob der Glukosetransport ins Gehirn gehemmt wird, ist offen. Im MRT gezeigt wurde außerdem, dass Ödeme der weißen Substanz bei Post-Covid-Patienten vorkommen können und dass diese mit kognitiven Funktionsverlusten korrelieren. Schließlich hat eine viel zitierte MRT-Analyse im Rahmen der UK Biobank Studie gezeigt, dass bei 401 Menschen mit überwiegend mildem bis moderatem Covid im Vorher-Nachher-Vergleich eine Hirnatrophie in gedächtnis- und kognitionsrelevanten Hirnarealen von im Mittel 2–3 % nachweisbar ist. Bei Menschen ohne Covid-Anamnese war das nicht zu sehen. Viel seien diese 2–3 % nicht, so Petzold. Aber auch die geringe Atrophie korrelierte in den UK Biobank Daten in gewissem Umfang mit einem schlechteren Abschneiden in kognitiven Tests.
Von der klinischen in die Grundlagenforschung: Prof. Ina Maja Vorberg, DZNE-Gruppenleiterin Prionen Zellbiologie, sucht nach Analogien zwischen Neuro-Covid und Prionen. Das sind jene Eiweißstoffe, die bei unterschiedlichen neurodegenerativen Erkrankungen im Gehirn akkumulieren und demenzielle und andere neuropsychiatrische Symptome verursachen. Prionen können sich ausbreiten, unter anderem, indem sie auf unterschiedlichen Wegen, darunter Zellbrückenbildung und exozytotische Freisetzung von Vesikeln, von einer Zelle zur anderen transportiert werden.
Der Prozess der Prionenausbreitung erinnert in vielem an Viren, die für ihre Vermehrung und Ausbreitung genauso auf einen funktionierenden zellulären Apparat angewiesen sind wie die Prionen für ihre Ausbreitung, die letztlich zu einer zunehmenden Anlagerung von monomeren Proteinen führt. Weil die Ausbreitungsprozesse so ähnlich sind, wäre es denkbar, dass demenzfördernde Prionen quasi huckepack auf einer Virusausbreitung rascher im Gehirn verteilt werden, als dies ohne Virus der Fall wäre. Entsprechend würde eine Demenzentwicklung beschleunigt. Tatsächlich lasse sich im Zellmodell zeigen, dass so genannte fusogene virale Glykoproteine dazu beitragen können, dass aggregierte Proteine sich schneller von Zelle zu Zelle verbreiten.
Nun gelangen SARS-CoV-2-Viren nach allem, was bisher bekannt ist, aber eben nicht regelmäßig ins Gehirn. Theorie gestorben? Es gäbe noch einen anderen Weg. Auch endogene Retroviren, also evolutionäre Uraltviren, die irgendwann ins Genom eingebaut wurden und seither von Generation zu Generation weitergegeben werden, können die beschriebenen Prozesse auslösen. Wenn SARS-CoV-2 nun solche endogenen Retroviren reaktivieren würde, dann könnte auf diesem Weg die Ausbreitung von Proteinaggregaten gefördert und eine Demenz beschleunigt werden. Alles Konjunktiv, alles Hypothese, aber eine bei allem potenziellen Leid interessante Hypothese.
Schließlich und abschließend gibt es auch noch die Autoantikörper-Hypothese, die unter anderem durch eine Fernsehdokumentation von Eckart von Hirschhausen breitere Bekanntheit erlangt hat (wir berichteten). Für eine Reihe von Virusinfektionen ist bekannt, dass sie, in seltenen Fällen, eine autoimmunologisch vermittelte Enzephalitis triggern können, die sich zum Beispiel gegen den NMDA-Rezeptor im Gehirn richtet. Dergleichen schaffen nicht nur Herpes- und Coronaviren, sondern auch die Influenzaviren, wie Prof. Dr. Harald Prüß von der Charité Berlin betonte. Der bekannte Berliner Ex-Eisbär Knut fiel wahrscheinlich einer durch Influenza A getriggerten Autoimmunenzephalitis zum Opfer, wie Prüß und Kollegen vor einigen Jahren zeigen konnten.
Könnte es sein, dass ein solcher Prozess auch subakut, also nicht als hoch akute Enzephalitis, verlaufen und die chronischen Post-Covid-Symptome verursachen kann? Was genau bei der SARS-CoV-2-Infektion relevante Autoantikörper sein könnten, ist noch nicht klar. Klar sei aber, dass sich bei sehr vielen Patienten mit Neuro-Covid Antikörper in der Zerebrospinalflüssigkeit (CSF) finden ließen, die dort nicht hingehörten, so Prüß. Die Berliner konnten in einer noch nicht publizierten Kohorte von 50 Neuro-Covid-Patienten zeigen, dass ungefähr ein Drittel hohe Level an Antikörpern im Liquor hat und dass dieser Nachweis mit schlechteren MoCA-Werten korreliert, also mit kognitiven Defiziten. Auch in Mäusen lassen sich bei Injektion der menschlichen CSF-Antikörper von Neuro-Covid-Patienten Symptome wie Katatonie und Krampfanfälle auslösen.
Weil das alles so gut zueinanderpasst, soll in Berlin jetzt ab Dezember 2022 und mit 2,5 Millionen Euro BMBF-Geldern gefördert eine randomisierte Post-Covid-Studie starten. In ihr soll die Immunapherese untersucht werden, die Autoantikörper aus dem Blut entfernt, was sekundär zu einer Verringerung im Liquor bzw. Gehirn führt. Insgesamt 66 Patienten werden 2:1 randomisiert teilnehmen und es wird in der Kontrollgruppe eine Sham-Prozedur geben, um den (möglicherweise erheblichen) Placeboeffekt zu minimieren. Der Nachbeobachtungszeitraum in der Studie beträgt 100 Tage, bis Ende 2023 soll sie fertig sein. „Es braucht mehr Forschung, aber wir müssen auch anfangen, zu behandeln“, so Prüß, der noch betonte, dass die Immunapherese-Studie nicht die einzige DZNE-Studie zu Neuro-Covid bleiben werde.
Zeit für Studien ist es. Mittlerweile ist es zweieinhalb Jahre her, dass postakute Covid-Symptome zum ersten Mal beschrieben wurden.
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