Eine Frau klagt über rätselhafte Beschwerden. Obwohl sie jung ist, kann sie plötzlich kaum noch laufen. Als dann auch ihr Hörsinn verrückt spielt, bringt ihre Familie sie in die Notaufnahme.
An einem Samstagabend stellt sich die 21-jährige, bis dato vollständig gesunde Patientin in der Notaufnahme eines Maximalversorgers vor. Sie klagt über eine seit einer Woche bestehende und zunehmende Gangverschlechterung. Die Patientin berichtet zudem, dass sie ihre Beine kaum noch spüren. Sie wird von ihrer Cousine begleitet, die mit großer Sorge über die zunehmende Verwirrtheit der Patientin berichtet. Sie stelle immer wieder dieselben Fragen und die Cousine habe das Gefühl, dass sie nicht mehr verstehe, wenn man ihr etwas erklärte.
Die neurologische Aufnahmeuntersuchung zeigt eine beidseitige Hypästhesie der Beine mit distaler Betonung. Zudem liegt eine Paraparese der Beine vor (Kraftgrade allseits 3–4/5), mit einer Betonung der Hüftbeuger- und strecker. Die Muskeleigenreflexe der unteren Extremitäten sind erloschen, das Reflexniveau der oberen Extremitäten im mittleren Bereich. Gang und Stand sind nur mit deutlicher Hilfestellung möglich. Die Patientin zeigt sich zu allen Qualitäten orientiert und der neuropsychologische Untersuchungsbefund ist orientierend unauffällig. Es fällt jedoch eine beidseitige Hörminderung auf, welche die geschilderte Verwirrtheit erklärt. Der übrige neurologische Status ist regelrecht, die Patientin in gutem Allgemein- und leicht adipösem Ernährungszustand.
Aufgrund der geschilderten Beschwerden erfolgt umgehend eine Lumbalpunktion zur Liquoranalyse. Der Verdacht: akute entzündliche Nervenerkrankung bzw. Guillain-Barré-Syndrom (GBS).
Hierbei handelt es sich um eine entzündliche Polyneuropathie, welche innerhalb weniger Tage zu fortschreitenden Sensibilitätsstörungen sowie Muskellähmungen führen kann – und somit auch die Atmung lähmen könnte. Zudem kann es durch die Beteiligung des vegetativen Nervensystems häufig zu gefährlichen Veränderungen der Vitalparameter kommen. Typischerweise sind die neurologischen Funktionsstörungen aufsteigend. Sie beginnen also in den Füßen und Händen und wandern Richtung Körpermitte. Ein Befall von Hirnnerven ist eher selten (s. a. Miller-Fisher-Syndrom). Meist folgt die Erkrankung auf eine vorangegangene Infektion der oberen Atemwege oder einen Magen-Darm-Infekt.
Im Fall unserer Patientin liegen also einige untypische Befunde vor, die proximal betonten Muskelparesen etwa oder die Beteiligung der Nn. cochlearis als isolierter Hirnnervenbefall. Zudem ist die Anamnese der Patientin bezüglich früherer Erkrankungen, Infektionen oder anderer medizinischer Auffälligkeiten negativ.
In der Regel zeigt das GBS einen klassischen Befund – die zytalbuminäre Dissoziation. Hierbei handelt es sich um ein entzündliches Liquorsyndrom mit deutlich erhöhten Liquoreiweiß bei nur leicht erhöhter oder gar normwertiger Zahl der Entzündungszellen im Liquor. Doch im Fall der Patientin ist der Nervenwasserbefund völlig unauffällig. Elektrophysiologische Untersuchungen wie die Neurografie oder Elektromyografie könnten weitere Aufschlüsse über das vorliegende Krankheitsbild liefern, doch aufgrund der Vorstellungszeit (Samstagabend) können die Untersuchungen nicht unmittelbar erfolgen.
Bereits bei Verdacht auf ein GBS ist eine Therapie umgehend einzuleiten, da bei fehlender Therapie eine lebenslange Behinderung droht – oder schlimmstenfalls der Tod. Die Therapie der Wahl besteht in der Gabe von intravenösen Immunglobulinen (IVIg). Eine Kortisontherapie, wie sie sonst bei entzündlichen Erkrankungen zum Einsatz kommt, ist beim GBS unwirksam. Die Patientin wird zudem auf die Überwachungsstation aufgenommen, um auf eine gefährliche vegetative Entgleisung rechtzeitig reagieren zu können.
Während die Patientin die Therapie erhält und es zumindest zunächst nicht zu einer Verschlechterung der Symptomatik kommt, werden umfangreiche differenzialdiagnostische Untersuchungen eingeleitet. Der Liquor wird hinsichtlich pathologischer Autoantikörper untersucht, das Blut auf Hinweise für Kollagenosen oder Vaskulitiden. Doch diese Laborbefunde bleiben alle ohne wegweisende Hinweise.
Zu Beginn der kommenden Woche werden dann die ergänzenden elektrophysiologischen Untersuchungen durchgeführt. Hier zeigen sich in Nerven und Muskeln teils geringe pathologische Befunde, doch der eindeutige Nachweis einer Nerven- oder Muskelschädigung gelingt zunächst nicht.
Da sich hinter komplexen neurologischen Beschwerden häufig auch ein internistisches Grundleiden verbergen kann, erfolgt eine allgemeinsomatische Abklärung. Unter anderem wird eine Abdomensonografie durchgeführt. Hier zeigt sich ein auffällig echoreicher Gallenblaseninhalt. Im Urinstatus sind deutlich erhöhte Ketonkörper nachweisbar. Zusammen ergibt sich somit das Bild einer gestörten Nahrungsaufnahme oder -verwertung.
Die Befunde werden mit der Patientin besprochen, zunächst gibt sie auf die Frage der Ernährungssituation hin lediglich an, in den letzten Monaten viel Gewicht gewollt verloren zu haben. Sie habe in den letzten 6 Monaten insgesamt 15 kg an Gewicht verloren. Auf weitere Nachfrage will sie keinerlei weitere Angaben über ihre Ernährung und den großen Gewichtsverlust machen. Wir bitten unseren Neuropsychologen um Hilfe. Dieser soll die Patientin umfassend befragen, was uns schließlich auf die richtige Fährte bringt.
Unter Tränen schildert die Patientin, dass sie seit jüngster Kindheit an massivem Übergewicht gelitten habe. Sie habe jahrelang versucht, abzunehmen, jedoch ohne Erfolg. Vor etwas mehr als einem halben Jahr sei sie deshalb in die Türkei geflogen. Doch nicht um dort Urlaub zu machen, wie sie ihrer Familie und Freunden erzählt hatte. Die Patientin hatte Kontakt zu einem plastischen Chirurgen aufgenommen, welcher bei ihr während des Türkeiaufenthalts eine Magenverkleinerung durchgeführt hatte. Dies sei auch der Grund für den großen Gewichtsverlust in den letzten Monaten gewesen.
Wir beginnen, zu recherchieren. Und tatsächlich finden sich eine ganze Reihe publizierter Fallberichte über eine atypische GBS-Variante, welche Wochen bis Monate nach einer bariatrischen Operation vorkommt. Die Patienten in den Fallberichten wiesen, wie auch unsere Patientin, häufig eine klinisch atypische Präsentation auf. Der Liquorbefund war oft normal und andere laborchemische Auffälligkeiten bestanden nicht. Doch die Patienten wiesen allesamt eine pathologische Elektrophysiologie auf. Kann es sein, dass aufgrund des frühen Untersuchungszeitpunkts die Nervenmessungen noch normal waren?
Es wird also erneut eine Neuro- und Myografie durchgeführt. Hier zeigen sich nun das Bild einer gemischt axonal-demyelinisierenden Nervenschädigung und Zeichen einer floriden Denervierung in allen untersuchten Muskeln im Sinne von pathologischer Spontanaktivität. Für gewöhnlich würde man bei einem GBS eine demyelinisierende Nervenschädigung erwarten, doch wie wir nun wissen, handelt es sich im Falle unserer Patientin nicht um eine klassische GBS-Variante.
In der Literatur wurde bei den Patienten allesamt ein gutes Ansprechen auf eine IVIg-Therapie beschrieben. Die Prognose war günstig, fast alle Patienten erholten sich vollständig von den Beschwerden. Auch unsere Patientin macht mithilfe von Ergo- und Physiotherapie rasche Fortschritte. Nach etwa 2 Wochen stationärem Aufenthalt wird sie in eine Rehaklinik verlegt. Zum Zeitpunkt der Verlegung sind die Beschwerden allesamt gut rückläufig, die Patientin kann bereits selbstständig auf Stationsebene mobilisiert werden. Im Verlauf der Rehabilitation kommt es zu einer vollständigen Regredienz der neurologischen Beschwerden.
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