Die Mehrzahl der Krebspatienten verliert infolge ihrer Tumorerkrankung an Gewicht. Welche Diät und weiteren Maßnahmen euren Patienten helfen können, einer Mangelernährung vorzubeugen, erfahrt ihr hier.
Viele Patienten mit Krebserkrankungen verlieren an Gewicht. Eine Auszehrung infolge einer Tumorerkrankung wird auch als Tumorkachexie bezeichnet. Mehr als 50 % der Krebspatienten sind im Lauf ihrer Erkrankung davon betroffen, am häufigsten in einem späten Stadium. Bei Tumoren des Magen-Darm-Trakts sind es bis zu 80 %, bei Lungenkrebs 50 bis 65 %. Oft wird eine Kachexie jedoch nicht diagnostiziert und nicht angemessen behandelt.
Doch was genau ist eine Tumorkachexie? Im Lauf der Jahre wurden sehr unterschiedliche Definitionen verwendet und verschiedene klinische und biochemische Parameter herangezogen, um eine Kachexie zu charakterisieren. Das macht es schwierig, ihre Häufigkeit zu erfassen und den Erfolg von Therapieansätzen zu überprüfen. „Die aktuellste und aus meiner Sicht sinnvollste Definition einer Tumorkachexie findet sich in der Leitlinie der European Society for Medical Oncology von 2021“, sagt Dr. Jann Arends. Er ist Internist und Experte für Onkologie, Ernährungs- und Palliativmedizin an der Klinik für Innere Medizin I des Universitätsklinikums Freiburg.
Demnach besteht eine Mangelernährung, wenn ein bedeutsamer Gewichtsverlust (mehr als fünf Prozent in sechs Monaten), ein niedriger Body-Maß-Index (BMI) oder eine geringe Muskelmasse vorliegen. Um eine Kachexie handelt es sich, wenn zusätzlich eine systemische Entzündung vorliegt. Die Leitlinie, an der auch Arends beteiligt war, orientiert sich bei der Kachexie-Definition an den Empfehlungen der „Global Leadership Initiative in Malnutrition“ (GLIM).
„Während beim normalen Gewichtsverlust zunächst vor allem das gespeicherte Fett abgebaut wird, kommt es bei einer Tumorkachexie schon früh zum Verlust von Muskelmasse“, erläutert Dr. Birgit Hiller, Biologin beim Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). „Das führt zu einer Abnahme der Muskelkraft und einer verringerten Leistungsfähigkeit.“ Oft kommt es auch zu einer Fatigue, also einer ausgeprägten Erschöpfung.
Die Ursachen einer Kachexie sind bisher nicht genau verstanden und Gegenstand von Forschungsarbeiten. Es wird vermutet, dass es zu komplexen Wechselwirkungen zwischen Tumor, Stoffwechsel- und Immunprozessen kommt. „Man nimmt an, dass das Immunsystem versucht, den Tumor abzuwehren, was eine systemische Entzündung auslöst“, erläutert Arends. „Diese führt dann zu einem katabolen Stoffwechsel mit Insulinresistenz, Glukoseintoleranz und einem hohen Verlust an Eiweißen.“ Warum manche Patienten eine Kachexie entwickeln und andere nicht, ist bisher nicht bekannt. Dagegen weiß man, dass Kachexien häufig bei Tumoren im Magen-Darm-Trakt und bei Lungenkrebs auftreten, eher selten dagegen bei Brustkrebs, Leukämie und Lymphomen.
Wichtige Laborparameter zur Diagnostik einer Tumorkachexie sind ein erhöhtes C-reaktives Protein (CRP-Wert) als Marker einer akuten Entzündung und ein niedriges Serum-Albumin als Marker einer chronischen Entzündung.
In mehreren Studien wurden Zytokine als ein möglicher Faktor beim Verlust von Muskelmasse bei der Tumorkachexie identifiziert. So untersuchte ein aktuelles systematisches Review die Rolle von systemischen Entzündungsprozessen bei der Tumorkachexie. Es wurden 17 Studien mit 1.277 Patienten mit unheilbaren Krebserkrankungen (Durchschnittsalter: 64 Jahre) und 155 gesunde Kontrollprobanden einbezogen. Dabei zeigte sich, dass Interleukin 6 (IL-6), Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-α) und Interleukin 8 (IL-8) bei Patienten mit Tumorkachexie im Vergleich zu Gesunden signifikant erhöht waren. Weiterhin war Interleukin 6 bei Tumorpatienten mit Kachexie signifikant höher als bei Patienten ohne Kachexie. Dies legt nahe, dass ein Netzwerk von Zytokinen, insbesondere IL-6, TNF-alpha und IL-8, mit der Entstehung einer Tumorkachexie in Zusammenhang steht. Allerdings wurde die Tumorkachexie in den Studien unterschiedlich definiert; zudem lassen die beobachteten Zusammenhänge keinen Schluss auf Kausalität zu.
Ein Gewichtsverlust durch die Erkrankung oder die Therapie ist bei Krebspatienten häufig. Das liegt überwiegend an einer unzureichenden Energie- und Nahrungszufuhr, die unterschiedliche Gründe haben kann. Dazu gehören:
Auch ein Verlust an Muskelmasse durch reduzierte körperliche Aktivität kann ein Grund für den Gewichtsverlust sein. „Der dritte Faktor sind Stoffwechselveränderungen im Sinne einer chronischen Entzündungsreaktion“, erläutert Arends. „Wichtig ist: Alle drei Faktoren müssen bei der Diagnostik der Mangelernährung berücksichtigt werden und erfordern gezielte Behandlungsansätze.“
Deshalb sollte bei allen Krebspatienten zu Beginn der Behandlung ein einfaches Screening auf Mangelernährung durchgeführt werden, das in regelmäßigen Abständen wiederholt wird, erläutert Arends. „Wird ein Risiko für eine Mangelernährung festgestellt, sollte sich ein umfassendes Ernährungsassessment anschließen“, so der Experte.
Dabei werden der körperliche Zustand und die gesamte Ernährungssituation des Patienten erfasst: Die Körper- und Muskelmasse, das Vorliegen einer systemischen Entzündung, ein ungewollter Gewichtsverlust, die aktuelle Nahrungsaufnahme (was und wie viel), das Aktivitätsniveau und die körperliche Leistungsfähigkeit. Berücksichtigt werden auch der Schweregrad der Erkrankung und die aktuelle Tumortherapie. Hilfreich kann es sein, wenn ambulant betreute Patienten ein Ernährungstagebuch führen, um so die Menge und Art ihrer Nahrung, ihr Aktivitätsniveau und ihr Gewicht über längere Zeit zu erfassen.
In spezialisierten Tumorzentren wird häufig bereits ein Ernährungsassessment nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) durchgeführt. Daran schließt sich eine qualifizierte Ernährungsberatung an. „Aber bei Patienten, die sich in ambulanter Behandlung befinden oder nach dem Abschluss der Therapie seltenere Arztkontakte haben, wird auf einen Gewichtsverlust möglicherweise nicht so stark geachtet“, schildert Hiller ihre Erfahrungen anhand der Anfragen an den Krebsinformationsdienst.
Niedergelassene Ärzte, die selbst keine Ernährungsberatung durchführen, können Krebspatienten bei Problemen mit der Ernährung zu einer ambulanten Ernährungsberatung überweisen. Hilfe bei der Suche nach qualifizierten Angeboten und bei Fragen zur Kostenübernahme bieten die Krankenkassen. „Dabei sollte man sich auf jeden Fall genau nach der Qualifikation des Ernährungsberaters erkundigen“, so Hiller.
Liegt eine Kachexie oder Mangelernährung vor oder besteht ein Risiko dafür, sollte eine Ernährungstherapie eingeleitet werden. Denn ein deutlicher Gewichtsverlust ist neben einer verminderten Leistungsfähigkeit und Lebensqualität auch mit einer geringeren Verträglichkeit von Tumortherapien und einer schlechteren Überlebensprognose verbunden.
Ziel ist es, die Lebensqualität und die Prognose der Erkrankung zu verbessern. Eine Heilung der Kachexie ist jedoch nach derzeitigem Wissensstand nicht möglich. „Neben der Ernährung sollten auch psychologische und soziale Aspekte, die körperliche Aktivität und der Umgang mit Schmerz berücksichtigt werden“, betont Arends. „Die Behandlung sollte in einem interdisziplinären Team erfolgen, wobei die Ernährung und weitere Maßnahmen individuell auf den Patienten abgestimmt werden sollten. Wichtig ist auch, den Patienten psychologisch zu begleiten und ihn nicht allein zu lassen.“
Die Betroffenen sollten so lange wie möglich normale Lebensmittel zu sich nehmen. „Die Ernährung sollte sich dabei am individuellen Kalorienbedarf orientieren und zugleich das Ziel haben, den Energie- und Nährstoffbedarf zu decken. Wichtig ist dabei insbesondere eine ausreichende Proteinzufuhr, mindestens 1,2 Gramm pro Kilogramm pro Tag. Dazu können Speisen mit Fetten und Proteinen angereichert oder durch Trinknahrung ergänzt werden“, erläutert der Experte. „Gleichzeitig sollten die Patienten regelmäßig zu Auswahl ihrer Kost, zur Nahrungsmenge und zum Umfeld der Mahlzeiten beraten werden.“ So können mehrere kleinere, über den Tag verteilte Mahlzeiten die Nahrungsaufnahme erleichtern. Weiterhin sollten die Nahrungsvorlieben und Gewohnheiten der Patienten berücksichtigt werden.
Wichtig ist gleichzeitig regelmäßige Bewegung. „Auch wenn viele Patienten das vielleicht überrascht: Körperliche Aktivität ist bei einer Tumorkachexie nicht verboten, sie kann sogar gut sein“, betont Hiller. Denn sie kann den Stoffwechsel in anabole Richtung beeinflussen, zum Aufbau von Muskelmasse beitragen, die Entzündungsreaktion lindern und zugleich die Lebensqualität verbessern. Die Aktivität sollte dabei individuell an das Tumorstadium und den Gesamtzustand des Patienten angepasst sein. So können bei geschwächten Patienten bewegungstherapeutische Maßnahmen von geschultem Personal angeleitet werden. Für fittere Betroffene kommen die Sportangebote der großen Krebszentren oder von Krebssportgruppen infrage, die in vielen Städten und Kommunen von den Sportvereinen angeboten werden.
„Das Problem ist insgesamt jedoch, dass viele der beschriebenen Maßnahmen in Kliniken und im ambulanten Bereich noch nicht konsequent umgesetzt werden“, betont Arends. „Oft stehen keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung, um etwa ein regelmäßiges Ernährungsscreening oder bewegungstherapeutische Maßnahmen durchzuführen. Dabei ist längst klar, wie wichtig diese Maßnahmen sind. In Zukunft sollten sie deshalb noch stärker implementiert und umgesetzt werden.“
Abzuraten ist aus Sicht von Experten von so genannten „Krebsdiäten“ und den meisten alternativen Ernährungsansätzen. Denn ein Nutzen ist bei den meisten Formen nicht erwiesen und sie sind häufig zu einseitig. Manche Ernährungsformen, wie etwa ausschließlich Rohkost, können zu Verwertungsproblemen führen und den Patienten eher schaden. Auch die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln und Mikronährstoffen wird laut Leitlinie „Klinische Ernährung in der Onkologie“ nicht empfohlen, weil ein Nutzen nicht eindeutig erwiesen ist und sie unter Umständen sogar schaden können.
Erst wenn eine ausreichende Nahrungsaufnahme anders nicht mehr erreicht werden kann, sollte auf spezielle Ernährungsformen zurückgegriffen werden. Dies kann Trinknahrung („Astronautennahrung“) sein oder eine invasive Ernährung, etwa über eine Nasen- oder Magensonde oder durch eine Injektion in die Vene (parenterale Ernährung).
Darüber hinaus werden verschiedene pharmakologische Substanzen diskutiert, die bei einer Tumorkachexie hilfreich sein sollen – etwa, indem sie den Appetit anregen oder eine Gewichtszunahme fördern. Dazu gehören zum Beispiel Cortison, Gestagene, Omega-3-Fettsäuren (Fischöl-Kapseln) oder Cannabinoide. Laut Leitlinie „Klinische Ernährung in der Onkologie“ können bei Krebspatienten, die eine Schmerztherapie benötigen, auch nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) erwogen werden, da sie entzündungshemmend wirken und möglicherweise das Gewicht verbessern.
„Allerdings ist die Evidenz für alle untersuchten Substanzen bisher gering“, sagt Arends. „Gestagene werden in der Praxis kaum noch eingesetzt, weil sie eher zu einer Zunahme an Wasser, aber nicht an Muskelmasse führen. Und bei Cannabis oder Omega-3-Fettsäuren hat sich bisher kein reproduzierbarer Einfluss auf das Gewicht oder die Körperzellmasse gezeigt.“ Allerdings wurden Cannabinoide bisher nur in niedrigen Dosierungen untersucht, Ergebnisse aus einer Studie mit individueller Dosissteigerung stehen noch aus. Aus Sicht von Arends können mit Omega-3-Fettsäuren und Protein angereicherte Trinknahrungen während einer Radio- oder Chemotherapie möglicherweise das Gewicht stabilisieren. Allerdings muss der Patient hier die Kosten selbst tragen.
In der Sterbephase treten aktive Ernährungsmaßnahmen dann in den Hintergrund. In dieser Phase haben die meisten Patienten ein geringeres Hunger- und Durstgefühl. „Hier geht es primär darum, quälende Symptome zu lindern und ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen“, sagt Arends. Die Patienten sollten daher Nahrung und Flüssigkeit nur noch nach ihren Bedürfnissen zu sich nehmen.
Anm. d. Red.: In einer ersten Version lautete die Überschrift „Tumorkachexie: Die Auszehrung stoppen“. Wir haben die Überschrift angepasst.
Bildquelle: Olenka Kotyk, unsplash