Frau Schmidt nimmt regelmäßig Methotrexat ein. Warum also zeigt sie auf einmal Symptome einer Intoxikation? Die Lösung liegt im Medikationsplan.
Eine Patientin wurde bei uns in der HNO für einen Routineeingriff aufgenommen. Die Patientin bekommt fünf verschiedene Medikamente, darunter auch Methotrexat zur Therapie einer rheumatoiden Arthritis. Methotrexat wird einmal wöchentlich gegeben, die Patientin nimmt ihre Dosis immer montags ein.
Der aufnehmende Arzt schreibt den Medikationsplan von Hand ab und trägt „Methotrexat 25 mg 1x Mo.“ ein. Auf der Station wird der Plan von der Pflegekraft handschriftlich in die Kurve als „Methotrexat 1–0–0“ übertragen. Die Pflegekraft dachte „Mo.“ bedeutet morgens und eine morgendliche Einnahme wird als 1–0–0 eingetragen.
Die Patientin erhielt also über einen längeren Zeitraum täglich eine eigentlich als Wochendosis gedachte Methotrexatdosis. Das fiel der Patientin auch deshalb nicht auf, weil Art und Anzahl der sonst eingenommenen Medikamente variierten. Nach ein paar Tagen entwickelte sie Schleimhautblutungen und Zeichen eines Nieren- und Leberversagens. Trotz sofortiger Therapie kam es im Verlauf zu einer schweren und letztlich tödlich verlaufenden Infektion der Lunge, die Patientin verstarb nach wenigen Tagen auf der Intensivstation im Multiorganversagen.
Methotrexatintoxikationen sind bekannt, es gibt viele Fachartikel und Forschungsarbeiten dazu, aber es gibt kaum sinnvolle Maßnahmen dagegen.
Wie so viele andere Probleme auch, ist das ein Eisbergphänomen. Wenn am Tag eine Million Medikamentenverordnungen von Hand abgeschrieben werden, bedingt das zigtausend falsche Verordnungen und einige hundert Komplikationen. Am Ende stehen dann sogar Tote. In der inneren Medizin oder Geriatrie wäre der Methotrexatfehler vielleicht aufgefallen, aber es gibt genug Fachbereiche der Medizin, denen das schlicht nichts sagt und dann wird das so aufgeschrieben, wie man es verstanden hat.
Habt ihr euch mal Gedanken darüber gemacht, woher wir wissen, welche Medikamente eure Oma einnimmt, wenn sie ins Krankenhaus kommt? Das fängt mit der Frage an: „Nehmen Sie regelmäßig Medikamente?“ Und was dann kommt, erfüllt die komplette Bandbreite von Überforderung und Planlosigkeit, bis zu DIN-zertifizierter, akkurater Präzisionsarbeit. Nicht selten heißt es dann: „Morgens eine halbe kleine Weiße und eine runde Rosafarbene, wissen Sie?“ – und die Leute erwarten ernsthaft, dass wir dann wüssten, was das ist.
Oder: „Eine für den Blutdruck!“ und dann fragen wir: „Lisinopril? Bisoprolol? Amlodipin?“ „Ja! Amlipin®! Die nehme ich.“
Und wenn man dann denkt, die erste Hürde haben wir erfolgreich überwunden, kommt spätestens nach der Frage der Dosierung das große Rätselraten: „2,5? 5? 7,5? 10?“ – „Ja, Herr Doktor, woher soll ich das denn wissen?“
„Ja, woher auch?“, denke ich mir dann mit den Augen rollend. Sind ja nur Ihre Medikamente.
Aber das ist unfair, man kann den Patienten daraus keinen Vorwurf machen. Sie nutzen ein System, von dem sie glauben, dass es funktioniert. So viele Experten für dies und das, die werden doch wissen, was sie tun. Das tun wir auch. Aber ein großes Problem ist, dass wir nicht wissen, was die anderen tun. Wir reden nicht mehr miteinander. Es gibt so viele Spezialisten, aber nicht alle Fäden laufen beim Hausarzt zusammen. Patienten haben ein sehr großes Vertrauen, dass die großen und kleinen Zahnräder des Gesundheitssystems glatt ineinandergreifen. Das ist mitnichten der Fall.
Eine fehlende, einheitliche Medikamentenverordnung ist eins der größten Probleme. Wenn man richtig Glück hat, bringen Patienten einen einheitlichen Medikamentenverordnungsplan mit. Seit 2016 haben Patienten einen Anspruch auf einen solchen Plan. Diese Zettel enthalten sogar einen Barcode, mit dem man die Medikamente einscannen (!) und übernehmen könnte (!). Ich kenne aber keine einzige Klinik, in der das gemacht wird. Es gibt nämlich keine Schnittstelle dafür. Unsere Kliniksoftware kennt zum Beispiel keinen Medikamentenverordnungsplan.
Also legen die Patienten im besten Fall einen ausgedruckten, gut leserlichen Plan vor und der aufnehmende Arzt übernimmt den Plan, indem Medikamente, Dosierungen und Appplikationszeiten handschriftlich im Verordnungsbogen angeordnet werden. Das liest dann auf Station die Pflegekraft und übernimmt den Plan in die Kurve, indem sie die handschriftlichen Anordnungen vom Arzt liest und erneut von Hand in die Kurve einträgt. Mit all den Risiken, etwas zu vergessen, undeutlich zu schreiben, falsch abzuschreiben oder unvollständig zu übernehmen.
Selbst wenn (!) wir den aktuellen Plan der Hausärztin haben und selbst wenn (!) bei diesem hochanfälligen System aus handschriftlichen Anordnungen, die einer vom anderen abschreibt, nichts schiefgeht, ist das keine Garantie, dass unsere Patienten auch das bekommen, was angeordnet wurde.
Der Dialog geht in 90 Prozent der Fälle so:
„Das ist Ihre aktuelle Liste, ja?“
„Ja, Herr Doktor, die aktuelle Liste.“
„Die nehmen Sie alle so, wie sie hier aufgeschrieben sind?“
„Ja genau, so nehme ich die.“
„Okay, lassen Sie uns mal durchgehen. Also ASS 100 mg morgens eine Tablette?“
„Ach so, dieee, die nehme ich schon ein halbes Jahr nicht mehr, die hatten wir damals mal zur Prophylaxe angefangen, aber die vertrag ich ja nicht …“
Und so weiter.
Dazu kommt noch ein weiteres Problem: Jetzt haben wir also diesen Medikationsplan, wie er vom Hausarzt ausgedruckt wurde. Unser Patient ist aber auch noch beim Diabetologen, Kardiologen, Nephrologen, Neurologen und Schmerztherapeuten in Behandlung.
Geplant ist das eigentlich so, dass der Neurologe z. B. ein Medikament verordnet und diese Info an den Hausarzt weitergegeben wird, der das dann in Zukunft verordnet. Stattdessen gehen die Patienten aber zu allen möglichen Fachärzten und holen sich auch dort ihre Rezepte ab. Monat für Monat. Schmerzmittel beim Schmerztherapeuten, die Restless-Legs-Medikation beim Neurologen, Diuretika, Phosphatbinder und Bikarbonat beim Nephrologen und der Hausarzt sieht nur einen Bruchteil der Medikamente.
Ich habe schon Patienten aufgenommen, die mit vier Zetteln von vier verschiedenen Ärzten ankamen und wir waren die ersten, die das mal zusammengetragen haben.
Die Lösung wäre es, wenn auf der Krankenkassenkarte alle verordneten Medikamente gespeichert wären. Bei der Abholung der rezeptierten Medikamente könnte man in der Apotheke die Karte einlesen und direkt auf Inkompatibilitäten überprüfen. Die gibt es nämlich – und zwar nicht zu wenige! Wer das selber mal checken möchte, kann dafür verschiedene Tools nutzen, z. B. hier, hier und hier. Professionelle Lösungen sind kostenpflichtig und können noch mehr überprüfen, sind aber meist auch etwas komplexer und benötigen Fachwissen zur Interpretation. Für Patienten, die selber mal nachschauen wollen, sind die obigen Lösungen schon ganz brauchbar.
Weil uns ein einheitliches, digitales System fehlt, werden wir noch sehr viele Probleme dieser Art haben. Kann ich das als Patient selber überprüfen, ob ich im Krankenhaus die richtigen Medikamente bekomme? Nur bedingt. Wenn die Klinik die Tabletten stellt, wird auf Präparate der Hausapotheke zurückgegriffen. Viele Patienten nehmen zuhause Kombinationspräparate z. B. Ramipril comp.®, eine Tablette, in der z. B. 5 mg Ramipril und 12,5 mg HCT enthalten sind. Bei uns würden stattdessen 2 Tabletten ausgegeben, nämlich eine Tablette Ramipril und eine Tablette HCT. Statt einer Tablette hat man jetzt also zwei Tabletten in der Schachtel. Die kleine, runde, weiße Tablette ist bei uns eine halbierte, hellblaue, bikonvex gewölbte. Wie soll man da den Überblick behalten?
Bleibt noch ein anderes Problem: Was, wenn Patienten uns absichtlich täuschen? Ein junger Mann hat das zuletzt bei uns geschafft, indem er uns einen handgeschriebenen Zettel mit seinen Medikamenten vorlegte. Er gab glaubhaft an, dass dies seine aktuellen Medikamente sind. Darunter hatte er sich selbständig die Dosis seines Schmerzmedikamentes deutlich erhöht. Von der Klinik wurde im Entlassbrief dann auch diese Dosis übernommen. Dem Hausarzt sagte der Patient, der Schmerztherapeut habe die Dosis erhöht.
Das ist letztlich nur durch eine Dummheit des Patienten aufgefallen, aber nicht, weil irgendein Sicherheitssystem gegriffen hätte. Ich werde hier natürlich nicht verraten, was das war, um keine Anleitung für Nachahmer zu übermitteln. Wir brauchen hier dringend eine einfache, praktikable Lösung und die würde darin bestehen, die verordneten Medikamente zentral auf der Krankenkassenkarte zu sammeln.
In der Praxis werden wir da im Stich gelassen. Mit Verweis auf den Datenschutz und ungelöste Schnittstellenprobleme wird hier viel gemahnt und wenig gelöst. Und weil sich das wie ein roter Faden durchzieht, bin ich relativ überzeugt, dass wir auch in 30 Jahren noch Faxe (unverschlüsselt) verschicken und handschriftlich Anordnungen von einem zum anderen abschreiben. Und irgendwo ruft auch heute wieder jemand in den Warteraum: „Frau Schmiedinger, soll Frau Doktor die Creme für den Vaginalpilz nochmal auf einem grünen Rezept verordnen?“
Bildquelle: Micah Boswell, unsplash