Neurologische Erkrankungen führen oft zum Suizid – damit hat sich das Fach bisher kaum auseinandergesetzt. Mit der Gesetzesänderung zum assistierten Suizid muss das aber geschehen, dringend.
Der assistierte Suizid ist für die Neurologie und Palliativmedizin durchaus eine Herausforderung. In der Neurologie wurde bislang den deutlich erhöhten Suizidraten bei fast allen neurologischen Erkrankungen – von der MS über ALS bis zu Parkinson – wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch nach der Abschaffung des §217 StGB durch das Bundesverfassungsgericht könnten Suizidwünsche chronisch neurologisch kranker Menschen zunehmen bzw. Neurologen vermehrt um Hilfe gebeten werden.
Am 26. Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht ein Urteil gesprochen, demzufolge das Verbot der „Geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ (§217 StGB) gegen das Grundgesetz verstoße. Nun arbeitet die Politik an einer Neuregelung. Derzeit liegen drei Gesetzesvorschläge vor, eine Anhörung im Bundestag wird dazu am 28. November 2022 stattfinden. Aber was bedeutet der assistierte Suizid für die Neurologie? Darüber diskutierten neurologische Experten, Renate Künast von Bündnis 90/Die Grünen und Sandra Martino, erste Vorsitzende von DIGNITAS Deutschland.
„In den vergangenen zwei Jahren sind wir vermehrt von Patientinnen und Patienten mit Fragen zu einer möglichen Suizidhilfe angesprochen worden“, schildert Prof. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung, seinen Eindruck aus dem klinischen Alltag. Denn was allgemein wenig bekannt ist: Neurologisch schwer erkrankte Menschen haben häufig den Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
In der Schweiz belegen neurologische Erkrankungen unter den Ursachen für den assistierten Suizid mit 14 % Platz 2 – und das, obwohl Hirntumoren in dieser Statistik nicht als neurologische, sondern als onkologische Erkrankungen klassifiziert wurden. „Wir Neurologinnen und Neurologen müssen daher Kompetenz in dieser Frage erwerben, prozedurale sowie die ethische Kompetenz“, sagt Prof. Martin Grond. Erbguth ergänzt: „Es liegen drei Gesetzesvorschläge vor und die Neurologie sollte sich dazu positionieren. Wir brauchen eine hybride Strategie, die einerseits Suizidprävention betreibt, die andererseits aber auch das Recht auf die Inanspruchnahme einer Suizidhilfe nicht behindert.“
An einem dieser Vorschläge hat Künast mitgearbeitet. Sie betont, wie wichtig es sei, dass die derzeitige Gesetzeslücke geschlossen werde. „Ich bin der festen Überzeugung, dass der Mensch selbst entscheiden kann, wann er seinem Leben ein Ende setzt. Ich würde gern einen gewissen Rahmen und damit eine Klarheit schaffen. Betroffene und Angehörige haben Anspruch darauf, dass ein assistierter Suizid geordnet abläuft.“ Ihr Entwurf sieht entsprechend vor, dass jeder Mensch mit Sterbewunsch nach einer ergebnisoffenen Beratung ein Medikament zum Suizid erhalten kann – in der Regel binnen zwei Monaten, bei Bedarf auch schneller, nämlich binnen zwei Wochen.
Dr. Annette Rogge, Fachärztin für Neurologie und Palliativmedizin und Ausbilderin für Ethikberatung im Gesundheitswesen, kritisiert an Künasts Vorschlag u. a., dass nicht vorgesehen ist, einen auf die entsprechende Erkrankung spezialisierten Facharzt obligat in die Beratung einzubinden. Das sei wichtig, da neurologische Erkrankungen mitunter fehldiagnostiziert oder die Betroffenen nicht immer der richtigen Behandlung zugeführt würden.
Prof. Stefan Lorenzl, Mitglied im Expertenkreis Palliativmedizin des bayerischen Staatsministeriums, führt den eindrucksvollen Fall einer jungen MS-Patientin mit ausgeprägtem Schmerzsyndrom an, die nach Einleitung einer erfolgreichen symptomatischen Therapie von ihrem Suizidwunsch Abstand nahm. Martino betont, das schon jetzt die umfassende Beratung der Sterbewilligen sowie die Beurteilung ihrer Krankenakten eine wichtige Voraussetzung für die Gewährung der Suizidhilfe ist.
Das grundsätzliche ethische Spannungsfeld, das ein Gesetz abdecken müsse, steckt der Vorsitzende der Ethikkommission der Asklepios Klinik Altona, Neurologe Prof. Joachim Röther, so ab: „Wir bewegen uns zwischen zwei Polen: Wir wollen die Autonomie des Menschen hochhalten, müssen aber auch sicherstellen, dass der Wunsch, das eigene Leben zu beenden, immer eine freiwillige Entscheidung ist.“ Auch müssten Schutzmechanismen für besonders vulnerable Gruppen diskutiert und im Gesetzesentwurf reflektiert werden.
Abschließend mahnt Renate Künast die Neurologie mit einem eindringlichen Appell, sich in dieser Frage klar zu positionieren: „Keine Regelung ist der brutalere Weg, dann finden vermehrt unassistierte, gewaltsame Suizide statt. Es ist wichtig, dass sich Neurologinnen und Neurologen zu diesem Thema äußern und darlegen, was ein neues Gesetz aus medizinischer Sicht regeln muss.“ Die DGN wird dieser Aufforderung nachkommen und zeitnah eine Stellungnahme vorlegen.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der DGN. Weitere Informationen findet ihr hier und hier.
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